»Nein, nur hohe Häuser!«
»Also zurück! Die Verfolger sind noch weit. Vielleicht finden wir doch noch einen Weg, der aus der Stadt führt.«
Plötzlich schien ihm eine neue Idee zu kommen. Er stand vor dem letzten Haus, welches das Gäßchen abschloß. Es war ein einfaches Gebäude aus Holz mit zwei Stockwerken. Das flache Dach zeigte eine kleine Terrasse mit Blumentöpfen.
»Carmaux! Schnell, öffne die Haustür! Verstecken wir uns hier! Es scheint mir das beste, um unsere Spur zu verwischen.«
»Gut, die Miete kostet auch nichts«, sagte der andere, und schon hatte er mit der Spitze der Navaja das Schloß gewaltsam aufgemacht.
Die Fliehenden traten ein und schlossen gerade das Tor noch hinter sich, als die Soldaten am Gäßchen vorbeizogen und mit lauter Stimme riefen: »Haltet sie, haltet sie!«
Die Flibustier tasteten sich in der Dunkelheit weiter und erreichten eine Treppe, die sie ohne Zögern emporstiegen. Auf dem oberen Flur machten sie halt.
»Wir müssen doch einmal sehen, wo wir sind, und unsere Mitbewohner kennenlernen«, meinte Carmaux, den selbst in den allerheikelsten Situationen sein trockener Humor nicht verließ.
»'ne nette Überraschung für die armen Teufel!«
Er zündete ein Stück Kanonenlunte an und blies darauf.
»Ah, da schnarcht jemand«, flüsterte er. »Ein gutes Zeichen! Wer ruhig schläft, ist ein friedlicher Mensch.«
Der Korsar hatte behutsam eine Tür geöffnet und war in ein bescheiden ausgestattetes Zimmer getreten. In diesem stand das Bett des Schnarchers.
Er nahm die Lunte und entzündete eine Kerze, die auf einer alten, als Kommode dienenden Kiste stand. Dann trat er an das Bett und hob die Decke. Ein kahlköpfiger Greis mit runzliger Pergamenthaut und einem Ziegenbart lag darin. Er schlief so fest, daß er nicht bemerkte, wie hell es auf einmal im Zimmer war.
»Dieser Mann wird uns nicht unbequem werden«, meinte der Kapitän.
Er faßte ihn beim Arm und rüttelte ihn, doch ohne Erfolg.
»Man muß ihm einen Kanonenschuß ins Ohr feuern«, lachte Carmaux.
Endlich, nach dreimaligem Schütteln, entschloß sich der Alte, die Augen zu öffnen. Als er die beiden Fremden bemerkte, fuhr er mit einem Ruck in die Höhe, riß entsetzt die Augen auf und rief: »Ich bin des Todes!«
»Mit dem Sterben, Freundchen, hat's noch gute Weile«, meinte Carmaux. »Mir scheint, daß Ihr jetzt lebendiger ausseht als vor fünf Minuten.«
»Wer seid Ihr?« fragte der Schwarze Korsar.
»Ein armer Mann, der nie jemandem etwas zuleide getan hat«, erwiderte der Greis zähneklappernd.
»Wir wollen Euch nichts Böses antun, Ihr müßt uns aber über alles Auskunft geben!«
»Eure Exzellenz ist also kein Dieb?«
»Ich bin ein Flibustier der Tortuga.«
»Ein – Fli – bu – stier? Dann bin ich wirklich dem Tode überliefert!«
»Ich habe Euch doch gesagt, daß ich Euch kein Haar krümmen werde.«
»Was wollt Ihr ...?«
»Vor allem möchten wir wissen, ob Ihr allein in diesem Hause wohnt?«
»Ganz allein, mein Herr.«
»Wer wohnt in Eurer Nachbarschaft?«
»Lauter brave Bürger!«
»Was seid Ihr von Beruf?«
»Ich bin ein armer Mann.«
»Ja, ein armer Mann, der Hausbesitzer ist, während ich nicht einmal ein Bett mein eigen nenne«, spöttelte Carmaux. »Ach, alter Fuchs, du hast nur Angst um dein Geld!«
»Ich habe kein Geld, Exzellenz!«
Carmaux brach in Lachen aus. »Ein Flibustier, der Exzellenz geworden! Dieser Mensch ist der drolligste Gevatter, der mir je vorgekommen!«
Der Alte schielte ihn von der Seite an, hütete sich aber wohl, den Beleidigten zu spielen.
»Kurz und gut!« rief der Korsar in drohendem Tone. »Was tut Ihr in Maracaibo?«
»Ich bin Advokat, ein armer Notar, Herr!«
»Es ist gut. Wir werden bis auf weiteres in Eurem Hause Quartier nehmen. Hütet Euch aber, uns zu verraten! Dann würdet Ihr um einen Kopf kürzer werden. Verstanden?«
»Aber was wollt Ihr denn von mir?« wimmerte der Unglückliche.
»Einstweilen nichts. Zieht Euch an und verhaltet Euch ruhig, wenn Euch das Leben lieb ist!«
Der Notar gehorchte schnell. Er zitterte aber derartig, daß Carmaux ihm behilflich sein mußte.
»Jetzt binde ihn an!« befahl der Korsar. »Paß aber auf, daß er nicht entflieht!«
»Ich bürge für ihn wie für mich selbst, Kapitän! Ich fessele ihn so, daß er nicht die kleinste Bewegung machen kann!«
Während der Flibustier den Alten wehrlos machte, hatte der Kommandant ein auf die Gasse gehendes Fenster im Vorflur geöffnet, um zu sehen, was sich draußen ereignete. Es schien, als ob die Patrouille sich entfernt hätte. Man hörte ihr Geschrei nicht mehr. Indessen sah man überall an den Fenstern der benachbarten Häuser Leute, die sich mit lauter Stimme unterhielten.
»Habt ihr gehört?« schrie ein Mann, der sich mit einer langen Büchse wichtig tat. »Die Flibustier scheinen einen Handstreich auf unsere Stadt versucht zu haben.«
»Das kann nicht sein«, entgegneten andere.
»Und sind sie in die Flucht geschlagen worden?« fragte ein dritter.
»Wahrscheinlich. Es ist ja alles still.«
»Welch eine Frechheit, in die Stadt zu dringen, wo hier so viele Soldaten liegen! Vielleicht wollten sie den Roten Korsaren retten!«
»Und statt dessen haben sie ihn am Galgen gefunden hatte. Schöne Überraschung für die Räuber.«
»Hoffentlich verhaften die Soldaten noch viele von ihnen«, lachte der Mann mit der Büchse. »Holz genug gibt es bei uns für neue Galgen. Gute Nacht, Freunde, auf morgen!«
»Ganz recht!« murmelte der Schwarze Korsar. »Holz gibt es genügend. Aber auf unsern Schiffen gibt es auch viele Kugeln, die Maracaibo zerstören werden. Eines Tages werdet ihr von mir hören!«
Er schloß das Fenster und kehrte ins Zimmer zurück.
Carmaux hatte inzwischen das ganze Haus durchstöbert, bis er die Speisekammer fand. Ihm war eingefallen, daß er am Abend vorher keine Zeit zum Essen gefunden hatte.
Da er Geflügel und ein schönes Stück gebratenen Fisch entdeckte, den der arme Advokat sich vielleicht zum Frühstück aufgehoben hatte, stellte er beides dem Kapitän zur Verfügung.
Außer den Speisen fand der Brave, tief im Schranke versteckt, auch einige verstaubte Flaschen besten spanischen Weins: Xeres, Portwein, Alicante und selbst Madeira.
»Herr!« wandte er sich an den Korsaren. »Während die Spanier unsern Schatten nachlaufen, wollen wir diese treffliche Seeforelle und diese gute Wildente verspeisen! Der Tropfen hier, den unser Freund, der Advokat, gewiß für seltene Gelegenheiten aufgespart hat, soll Euch in schönste Laune versetzen!«
Der Kapitän trank zwar einige Gläser, genoß aber von den Speisen nur wenig. Er saß, wie gewöhnlich, schweigend da. Dann stand er auf und ging im Zimmer auf und nieder, während Carmaux den Rest des Essens verschlang und die angebrochene Flasche leerte.
Der arme Notar, der zusehen mußte, war in Verzweiflung und jammerte unaufhörlich: er habe sich die Weine unter großen Opfern aus dem fernen Vaterlande kommen lassen. Da bot ihm denn großmütig der Seemann, der indessen lustig geworden war, ein Gläschen an, um seinen Grimm zu besänftigen.
»Donnerwetter!« rief er. »Ich dachte nicht, daß dieser Tag noch so fröhlich enden würde! Erst zwischen zwei Feuern, dann in Gefahr, gehenkt zu werden, und nun sitzen wir vor all diesen Herrlichkeiten!«
»Die Gefahr ist noch nicht vorüber«, bemerkte der Schwarze Korsar ernst. »Wer bürgt dir dafür, daß die Spanier, denen wir heut entwischten, uns nicht morgen hier entdecken werden? Ja, es geht uns nicht schlecht, aber lieber möchte ich doch auf meinem Schiffe sein.«
»An Eurer Seite ängstige ich mich nicht. Ihr ersetzt hundert Mann.«
»Hast du vergessen, daß der Gouverneur von Maracaibo ein alter Fuchs ist und daß er kein Mittel unversucht lassen wird, mich in seine Hand zu bekommen? Ich habe einen Kampf auf Leben und Tod mit ihm aufgenommen.«