Erich Maria Remarque
Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend
Scheltet nicht, wenn ich einmal von alten Zeiten rede. Die Welt liegt wieder im fahlen Licht der Apokalypse, der Geruch des Blutes und der Staub der letzten Zerstörung sind noch nicht verflogen, und schon arbeiten Laboratorien und Fabriken aufs neue mit Hochdruck daran, den Frieden zu erhalten durch die Erfindung von Waffen, mit denen man den ganzen Erdball sprengen kann. -
Den Frieden der Welt! Nie ist mehr darüber geredet und nie weniger dafür getan worden als in unserer Zeit; nie hat es mehr falsche Propheten gegeben, nie mehr Lügen, nie mehr Tod, nie mehr Zerstörung und nie mehr Tränen als in unserm Jahrhundert, dem zwanzigsten, dem des Fortschritts, der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordens.
Darum scheltet nicht, wenn ich einmal zurückgehe zu den sagenhaften Jahren, als die Hoffnung noch wie eine Flagge über uns wehte und wir an so verdächtige Dinge glaubten wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz – und auch daran, daß ein Weltkrieg genug Belehrung sein müsse für eine Generation.
I
Die Sonne scheint in das Büro der Grabdenkmalsfirma Heinrich Kroll & Söhne. Es ist April 1923, und das Geschäft geht gut. Das Frühjahr hat uns nicht im Stich gelassen, wir verkaufen glänzend und werden arm dadurch, aber was können wir machen – der Tod ist unerbittlich und nicht abzuweisen, und menschliche Trauer verlangt nun einmal nach Monumenten in Sandstein, Marmor und, wenn das Schuldgefühl oder die Erbschaft beträchtlich sind, sogar nach dem kostbaren, schwarzen, schwedischen Granit, allseitig poliert. Herbst und Frühjahr sind die besten Jahreszeiten für die Händler mit den Utensilien der Trauer – dann sterben mehr Menschen als im Sommer und im Winter -; im Herbst, weil die Säfte schwinden, und im Frühjahr, weil sie erwachen und den geschwächten Körper verzehren wie ein zu dicker Docht eine zu dünne Kerze. Das wenigstens behauptet unser rührigster Agent, der Totengräber Liebennann vom Stadtfriedhof, und der muß es wissen; er ist achtzig Jahre alt, hat über zehntausend Leichen eingegraben, sich von seiner Provision an Grabdenkmälern ein Haus am Fluß mit einem Garten und einer Forellenzucht gekauft und ist durch seinen Beruf ein abgeklärter Schnapstrinker geworden. Das einzige, was er haßt, ist das Krematorium der Stadt. Es ist unlautere Konkurrenz. Wir mögen es auch nicht. An Urnen ist nichts zu verdienen.
Ich sehe auf die Uhr. Es ist kurz vor Mittag, und da heute Sonnabend ist, mache ich Schluß. Ich stülpe den Blechdeckel auf die Schreibmaschine, trage den Vervielfältigungsapparat »Presto« hinter den Vorhang, räume die Steinproben beiseite und nehme die photographischen Abzüge von Kriegerdenkmälern und künstlerischem Grabschmuck aus dem Fixierbad. Ich bin nicht nur Reklamechef, Zeichner und Buchhalter der Firma; ich bin seit einem Jahr auch ihr einziger Büroangestellter und als solcher nicht einmal vom Fach.
Genießerisch hole ich eine Zigarre aus der Schublade. Es ist eine schwarze Brasil. Der Reisende für die Württembergische Metallwarenfabrik hat sie mir am Morgen gegeben, um hinterher zu versuchen, mir einen Posten Bronzekränze anzudrehen; die Zigarre ist also gut. Ich suche nach Streichhölzern, aber, wie fast immer, sind sie verlegt. Zum Glück brennt ein kleines Feuer im Ofen. Ich rolle einen Zehnmarkschein zusammen, halte ihn in die Glut und zünde mir damit die Zigarre an. Das Feuer im Ofen ist Ende April eigentlich nicht mehr nötig; es ist nur ein Verkaufseinfall meines Arbeitgebers Georg Kroll. Er glaubt, daß Leute in Trauer, die Geld ausgeben müssen, das lieber in einem warmen Zimmer tun, als wenn sie frieren. Trauer sei bereits ein Frieren der Seele, und wenn dazu noch kalte Füße kämen, sei es schwer, einen guten Preis herauszuholen. Wärme taue auf; auch den Geldbeutel. Deshalb ist unser Büro überheizt, und unsere Vertreter haben als obersten Grundsatz eingepaukt bekommen, nie bei kaltem Wetter oder Regen zu versuchen, auf dem Friedhof einen Abschluß zu machen – immer nur in der warmen Bude und, wenn möglich, nach dem Essen. Trauer, Kälte und Hunger sind schlechte Geschäftspartner.
Ich werfe den Rest des Zehnmarkscheins in den Ofen und richte mich auf. Im selben Moment höre ich, wie im Hause gegenüber ein Fenster aufgestoßen wird. Ich brauche nicht hinzusehen, um zu wissen, was los ist. Vorsichtig beuge ich mich über den Tisch, als hätte ich noch etwas an der Schreibmaschine zu tun. Dabei schiele ich verstohlen in einen kleinen Handspiegel, den ich so gestellt habe, daß ich das Fenster beobachten kann. Es ist, wie immer, Lisa, die Frau des Pferdeschlächters Watzek, die nackt dort steht und gähnt und sich reckt. Sie ist erst jetzt aufgestanden. Die Straße ist alt und schmal, Lisa kann uns sehen und wir sie, und sie weiß es; deshalb steht sie da. Plötzlich verzieht sie ihren großen Mund, lacht mit allen Zähnen und zeigt auf den Spiegel. Sie hat ihn mit ihren Raubvogelaugen entdeckt. Ich ärgere mich, erwischt zu sein, benehme mich aber, als merke ich nichts und gehe in einer Rauchwolke in den Hintergrund des Zimmers. Nach einer Weile komme ich zurück. Lisa grinst. Ich blicke hinaus, aber ich sehe sie nicht an, sondern tue, als winke ich jemand auf der Straße zu. Zum Überfluß werfe ich noch eine Kußhand ins Leere. Lisa fällt darauf herein. Sie ist neugierig und beugt sich vor, um nachzuschauen, wer da sei. Niemand ist da. Jetzt grinse ich. Sie deutet ärgerlich mit dem Finger auf die Stirn und verschwindet.
Ich weiß eigentlich nicht, warum ich diese Komödie aufführe. Lisa ist das, was man ein Prachtweib nennt, und ich kenne einen Haufen Leute, die gern ein paar Millionen zahlen würden, um jeden Morgen einen solchen Anblick zu genießen. Ich genieße ihn auch, aber trotzdem reizt er mich, weil diese faule Kröte, die erst mittags aus dem Bett klettert, ihrer Wirkung so unverschämt sicher ist. Sie kommt gar nicht auf den Gedanken, daß nicht jeder sofort mit ihr schlafen möchte. Dabei ist ihr das im Grunde ziemlich gleichgültig. Sie steht am Fenster mit ihrer schwarzen Ponyfrisur und ihrer frechen Nase und schwenkt ein Paar Brüste aus erstklassigem Carrara-Marmor herum wie eine Tante vor einem Säugling eine Spielzeugklapper. Wenn sie ein Paar Luftballons hätte, würde sie fröhlich die hinaushalten. Da sie nackt ist, sind es eben ihre Brüste, das ist ihr völlig egal. Sie freut sich ganz einfach darüber, daß sie lebt und daß alle Männer verrückt nach ihr sein müssen, und dann vergißt sie es und fällt mit ihrem gefräßigen Mund über ihr Frühstück her. Der Pferdeschlächter Watzek tötet inzwischen müde, alte Droschkengäule.
Lisa erscheint aufs neue. Sie trägt jetzt einen ansteckbaren Schnurrbart und ist außer sich über diesen geistvollen Einfall. Sie grüßt militärisch, und ich nehme schon an, daß sie so unverschämt ist, damit den alten Feldwebel a. D. Knopf von nebenan zu meinen; dann aber erinnere ich mich, daß Knopfs Schlafzimmer nur ein Fenster nach dem Hof hat. Und Lisa ist raffiniert genug, zu wissen, daß man sie von den paar Nebenhäusern nicht beobachten kann.
Plötzlich, als brächen irgendwo Schalldämme, beginnen die Glocken der Marienkirche zu läuten. Die Kirche steht am Ende der Gasse, und die Schläge dröhnen, als fielen sie vom Himmel direkt ins Zimmer. Gleichzeitig sehe ich vor dem zweiten Bürofenster, das nach dem Hof geht, wie eine geisterhafte Melone den kahlen Schädel meines Arbeitgebers vorübergleiten. Lisa macht eine rüpelhafte Gebärde und schließt ihr Fenster. Die tägliche Versuchung des heiligen Antonius ist wieder einmal überstanden.
Georg Kroll ist knapp vierzig Jahre alt; aber sein Kopf glänzt bereits wie die Kegelbahn im Gartenrestaurant Boll. Er glänzt, seit ich ihn kenne, und das ist jetzt über fünf Jahre her. Er glänzt so, daß im Schützengraben, wo wir im selben Regiment waren, ein Extrabefehl bestand, daß Georg auch bei ruhigster Front seinen Stahlhelm aufbehalten müsse – so sehr hätte seine Glatze selbst den sanftmütigsten Gegner verlockt, durch einen Schuß festzustellen, ob sie ein riesiger Billardball sei oder nicht.