Выбрать главу

»Komm«, sage ich. »Komm, Isabelle. Keiner weiß, was er ist und wo und wohin er geht – aber wir sind zusammen, das ist alles, was wir wissen können.«

Ich ziehe sie mit mir. Vielleicht gibt es wirklich nichts anderes, wenn alles zerfällt, denke ich, als das bißchen Beieinandersein, und auch das ist noch ein sanfter Betrug, denn da, wo der andere einen wirklich braucht, kann man ihm nicht folgen und ihm nicht beistehen, das habe ich oft genug gesehen, wenn ich im Kriege in die toten Gesichter meiner Kameraden geblickt habe. Jeder hat seinen eigenen Tod und muß ihn allein sterben, und niemand kann ihm dabei helfen.

»Du läßt mich nicht allein?« flüstert sie.

»Ich lasse dich nicht allein.«

»Schwöre es«, sagt sie und bleibt stehen.

»Ich schwöre es«, erwidere ich unbedenklich.

»Gut, Rudolf.«

Sie seufzt, als wäre jetzt vieles leichter.

»Aber vergiß es nicht. Du vergißt so oft.«

»Ich werde es nicht vergessen.«

»Küsse mich.«

Ich ziehe sie an mich. Ich fühle ein sehr leichtes Grauen und weiß nicht, was ich tun soll, und küsse sie mit trockenen, geschlossenen Lippen.

Sie hebt ihre Hände um meinen Kopf und hält ihn. Plötzlich spüre ich einen scharfen Biß und stoße sie zurück. Meine Unterlippe blutet. Sie hat hineingebissen. Ich starre sie an. Sie lächelt. Ihr Gesicht ist verändert. Es ist böse und schlau. »Blut!« sagt sie leise und triumphierend. »Du wolltest mich wieder betrügen, ich kenne dich! Aber jetzt kannst du es nicht mehr. Es ist besiegelt. Du kannst nicht mehr weg!«

»Ich kann nicht mehr weg«, sage ich ernüchtert. »Meinetwegen! Darum brauchst du mich aber doch nicht wie eine Katze anzufallen. Wie das blutet! Was soll ich der Oberin sagen, wenn sie mich so sieht?«

Isabelle lacht. »Nichts«, erwidert sie. »Warum mußt du immer etwas sagen? Sei doch nicht so feige!«

Ich spüre das Blut lau in meinem Munde. Mein Taschentuch hat keinen Zweck – die Wunde muß sich von selbst schließen. Geneviève steht vor mir. Sie ist plötzlich Jenny. Ihr Mund ist klein und häßlich, und sie lächelt schlau und boshaft. Dann beginnen die Glocken für die Maiandacht. Eine Pflegerin kommt den Weg entlang. Ihr weißer Mantel schimmert ungewiß im Zwielicht.

Meine Wunde ist während der Andacht getrocknet, ich habe meine tausend Mark empfangen und sitze jetzt mit dem Vikar Bodendiek am Tisch. Bodendiek hat seine seidenen Gewänder in der kleinen Sakristei abgelegt. Vor fünfzehn Minuten war er noch eine mystische Figur -, weihrauchumdampft stand er in Brokat und Kerzenlicht da und hob die goldene Monstranz mit dem Leib Christi in der Hostie über die Köpfe der frommen Schwestern und die Schädel der Irren, die Erlaubnis haben, bei der Andacht dabeizusein – jetzt aber, im schwarzen abgeschabten Rock und dem leicht verschwitzten weißen Kragen, der hinten statt vorne geschlossen ist, ist er nur noch ein einfacher Agent Gottes, gemütlich, kräftig, mit den roten Backen, der roten Nase und den geplatzten Äderchen darin, die den Liebhaber des Weines kennzeichnen. Er weiß es nicht – aber er war mein Beichtvater für manche Jahre vor dem Kriege, als wir, auf Anordnung der Schule, jeden Monat beichten und kommunizieren mußten. Wer nicht ganz dumm war, ging zu Bodendiek. Er war schwerhörig, und da man bei der Beichte flüstert, konnte er nicht verstehen, was für Sünden man bekannte. Er gab deshalb die leichtesten Bußen auf. Ein paar Vaterunser, und man war aller Sünden ledig und konnte Fußball spielen gehen oder in der Städtischen Leihbücherei versuchen, verbotene Bücher zu bekommen. Das war etwas anderes als beim Dompastor, zu dem ich einmal geriet, weil ich es eilig hatte und weil vor Bodendieks Beichtstuhl eine lange Schlange Wartender stand. Der Dompastor gab mir eine heimtückische Buße auf: ich mußte in einer Woche wieder zur Beichte kommen, und als ich es tat, fragte er mich, warum ich da sei. Da man in der Beichte nicht lügen darf, sagte ich es ihm, und er gab mir als Buße ein paar Dutzend Rosenkränze zu beten und den Befehl, die folgende Woche ebenfalls wiederzukommen. Das ging so weiter, und ich verzweifelte fast – ich sah mich bereits mein ganzes Leben an der Kette des Dompastors zu wöchentlichen Konfessionen verurteilt. Zum Glück bekam der heilige Mann in der vierten Woche die Masern und mußte im Bett bleiben. Als mein Beichttag herankam, ging ich zu Bodendiek und erklärte ihm mit lauter Stimme die Lage – der Dompastor habe mich verpflichtet, heute wieder zu beichten, aber er sei krank. Was ich tun solle? Zu ihm hingehen könne ich nicht, da Masern ansteckend seien. Bodendiek entschied, daß ich bei ihm ebensogut beichten könne; Beichte sei Beichte und Priester Priester. Ich tat es und war frei. Den Dompastor aber mied ich seither wie die Pest.

Wir sitzen in einem kleinen Zimmer in der Nähe des großen Saales für die freien Kranken. Es ist kein eigentliches Eßzimmer; Bücherregale stehen darin, ein Topf mit weißen Geranien, ein paar Stühle und Sessel und ein runder Tisch. Die Oberin hat uns eine Flasche Wein geschickt, und wir warten auf das Essen. Ich hätte vor zehn Jahren nie geglaubt, einmal mit meinem Beichtvater eine Flasche Wein zu trinken – aber ich hätte damals auch nie geglaubt, daß ich einmal Menschen töten und dafür nicht aufgehängt, sondern dekoriert werden würde, und trotzdem ist es so gekommen.

Bodendiek probiert den Wein. »Ein Schloß Reinhardshausener von der Domäne des Prinzen Heinrich von Preußen«, erklärt er andächtig. »Die Oberin hat uns da etwas sehr Gutes geschickt. Verstehen Sie was von Wein?«

»Wenig«, sage ich.

»Sie sollten es lernen. Speise und Trank sind Gaben Gottes. Man soll sie genießen und verstehen.«

»Der Tod ist sicher auch eine Gabe Gottes«, erwidere ich und blicke durch das Fenster in den dunklen Garten. Es ist windig geworden, und die schwarzen Kronen der Bäume schwanken. »Soll man den auch genießen und verstehen?«

Bodendiek sieht mich über den Rand seines Weinglases belustigt an. »Für einen Christen ist der Tod kein Problem. Er braucht ihn nicht gerade zu genießen; aber verstehen kann er ihn ohne weiteres. Der Tod ist der Eingang zum ewigen Leben. Da ist nichts zu fürchten. Und für viele ist er eine Erlösung.«

»Warum?«

»Eine Erlösung von Krankheit, Schmerz, Einsamkeit und Elend.« Bodendiek nimmt einen genießerischen Schluck und läßt ihn hinter seinen roten Backen im Munde umhergehen.

»Ich weiß«, sage ich. »Die Erlösung vom irdischen Jammertal. Warum hat Gott es eigentlich geschaffen?«

Bodendiek sieht im Augenblick nicht so aus, als könne er das Jammertal nicht ertragen. Er ist rund und voll und hat die Schöße seines Priesterrocks über die Lehne des Stuhls gebreitet, damit sie nicht zerknittern unter dem Druck seines kräftigen Hinterns. So sitzt er da, der Kenner des Jenseits und des Weines, das Glas fest in der Hand.

»Wozu hat Gott eigentlich das irdische Jammertal geschaffen?« wiederhole ich. »Hätte er uns nicht gleich im ewigen Leben lassen können?«

Bodendiek hebt die Schultern. »Sie können das in der Bibel nachlesen. Der Mensch, das Paradies, der Sündenfall -«

»Der Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradiese, die Erbsünde und damit der Fluch über hunderttausend Generationen. Der Gott der längsten Rache, die es je gegeben hat.«

»Der Gott der Vergebung«, erwidert Bodendiek und hält den Wein gegen das Licht. »Der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit, der immer wieder bereit ist, zu vergeben, und der seinen eigenen Sohn geopfert hat, um die Menschheit zu erlösen.«

полную версию книги