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Sie sprach lange mit mir. Sie trug einen leichten hellen Pelzmantel, der mindestens zehn bis zwanzig Kreuzdenkmäler aus bestem schwedischem Granit wert war, und dazu ein Abendkleid und goldene Sandalen. Es war elf Uhr morgens, und in der Welt jenseits der Mauern wäre das unmöglich gewesen. Hier aber wirkte es nur aufregend; als wäre jemand mit einem Fallschirm von einem fremden Planeten herabgeweht worden.

Es war ein Tag mit Sonne, Regenschauern, Wind und plötzlicher Stille. Sie wirbelten durcheinander, eine Stunde war es März, die andere April, und dann fiel unvermittelt ein Stück Mai und Juni hinein. Dazu kam Isabelle, von irgendwoher, und es war wirklich von irgendwoher – von da, wo die Grenzen aufhören, wo das Licht der Vernunft nur noch verzerrt wie ein wehendes Nordlicht an Himmeln hängt, die keinen Tag und keine Nacht kennen – nur ihre eigenen Strahlen-Echos und die Echos der Echos und das fahle Licht des Jenseits und der zeitlosen Weite.

Sie verwirrte mich von Anfang an, und alle Vorteile waren auf ihrer Seite. Ich hatte zwar viele bürgerliche Begriffe im Kriege verloren, aber das hatte mich nur zynisch und etwas verzweifelt gemacht, aber nicht überlegen und frei. So saß ich da und starrte sie an, als wäre sie ohne Schwergewicht und schwebe, während ich ihr mühsam nachstolperte. Dazu kam, daß oft eine sonderbare Weisheit durch das schimmerte, was sie sagte; es war nur verschoben und gab dann überraschend einen Fernblick frei, der einem das Herz klopfen ließ; doch wenn man ihn halten wollte, wehten schon wieder Schleier und Nebel darüber, und sie war ganz woanders.

Sie küßte mich am ersten Tage, und sie tat es so selbstverständlich, daß es nichts zu bedeuten schien; aber das änderte nichts daran, daß ich es nicht spürte. Ich spürte es, er erregte mich, doch dann schlug es wie eine Welle gegen die Barriere eines Riffes – ich wußte, sie meinte mich gar nicht, sie meinte jemand anderen, eine Gestalt ihrer Phantasie, einen Rolf oder Rudolf, und vielleicht meinte sie auch die nicht, und es waren nur Namen, die aus dunklen, unterirdischen Strömen hochgeworfen wurden, ohne Wurzeln und ohne Zusammenhang.

Sie kam von da an fast jeden Sonntag in den Garten, und wenn es regnete, kam sie in die Kapelle. Ich hatte von der Oberin die Erlaubnis, nach der Messe Orgel zu üben, wenn ich wollte. Ich tat es bei schlechtem Wetter. Ich übte nicht wirklich, dafür spielte ich zu schlecht; ich tat nur dasselbe wie mit dem Klavier: ich spielte für mich, irgendwelche lauen Phantasien, so gut es ging, etwas Stimmung und Träumerei und Sehnsucht nach Ungewissem, nach Zukunft, nach Erfüllung und nach mir selbst, und man brauchte nicht besonders gut zu spielen, um das zu können. Isabelle kam manchmal mit mir und hörte zu. Sie saß dann im Halbdunkel unten, der Regen klatschte an die bunten Scheiben, und die Orgeltöne gingen über ihr dunkles Haupt dahin – ich wußte nicht, was sie dachte, und es war sonderbar und etwas sentimental, aber dahinter stand dann plötzlich die Frage nach dem Warum, der Schrei, die Angst und das Verstummen. Ich fühlte das alles, und ich fühlte auch etwas von der unfaßbaren Einsamkeit der Kreatur, wenn wir in der leeren Kirche mit der Dämmerung und den Orgellauten waren, nur wir beide, als wären wir die einzigen Menschen, zusammengehalten vom halben Licht, den Akkorden und dem Regen, und trotzdem für immer getrennt, ohne jede Brücke, ohne Verständnis, ohne Worte, nur mit dem merkwürdigen Glühen der kleinen Wachfeuer an den Grenzen des Lebens in uns, die wir sahen und mißverstanden, sie in ihrer, ich in meiner Weise, wie taubstumme Blinde, ohne taub und stumm und blind zu sein, und deshalb viel ärmer und beziehungsloser. Was war es, das in ihr machte, daß sie zu mir kam? Ich wußte es nicht und würde es nie wissen – es war begraben unter Schutt und einem Bergrutsch -, aber ich verstand auch nicht, warum diese sonderbare Beziehung mich trotzdem so verwirrte, ich wußte doch, was mit ihr war und daß sie mich nicht meinte, und trotzdem machte es mich sehnsüchtig nach etwas, das ich nicht kannte, und bestürzte mich und machte mich manchmal glücklich und unglücklich ohne Grund und ohne Sinn.

Eine kleine Schwester kommt auf mich zu. »Die Oberin möchte gern mit Ihnen sprechen.«

Ich stehe auf und folge ihr. Mir ist nicht ganz wohl zumute. Vielleicht hat eine der Schwestern spioniert und die Oberin will mir sagen, ich solle nur mit Kranken über sechzig sprechen, oder sie will mir sogar kündigen, obschon der Oberarzt erklärt hat, es sei gut, wenn Isabelle Gesellschaft habe.

Die Oberin empfängt mich in ihrem Besuchszimmer. Es riecht nach Bohnerwachs, Tugend und Seife. Kein Hauch vom Frühling ist hineingedrungen. Die Oberin, eine hagere, energische Frau, empfängt mich freundlich; sie hält mich für einen tadellosen Christen, der Gott liebt und an die Kirche glaubt. »Es ist bald Mai«, sagt sie und sieht mir gerade in die Augen.

»Ja«, erwidere ich und mustere die blütenweißen Gardinen und den kahlen, glänzenden Fußboden.

»Wir haben daran gedacht, ob wir nicht eine Mai-Andacht abhalten könnten.«

Ich schweige erleichtert. »In den Kirchen der Stadt ist im Mai jeden Abend um acht Uhr eine Andacht«, erklärt die Oberin.

Ich nicke. Ich kenne die Mai-Andachten. Weihrauch quillt in die Dämmerung, die Monstranz funkelt, und nach der Andacht treiben sich die jungen Leuten noch einige Zeit umher auf den Plätzen mit den alten Bäumen, wo die Maikäfer summen. Ich gehe zwar nie hin, aber ich weiß das noch aus der Zeit, bevor ich Soldat wurde. Damals begannen meine ersten Erlebnisse mit jungen Mädchen. Alles war sehr aufregend und heimlich und harmlos. Aber ich denke nicht daran, jetzt jeden Abend dieses Monats um acht Uhr hier anzutreten und Orgel zu spielen.

»Wir möchten wenigstens sonntags abends eine Andacht haben«, sagt die Oberin. »Eine festliche, mit Orgelmusik und Te Deum. Eine stille wird ohnehin für die Schwestern jeden Abend gehalten.«

Ich überlege. Sonntags abends ist es langweilig in der Stadt, und die Andacht dauert nur eine knappe Stunde.

»Wir können nur wenig zahlen«, erklärt die Oberin. »Soviel wie für die Messe. Das ist jetzt wohl nicht mehr viel, wie?«

»Nein«, sage ich. »Es ist nicht mehr viel. Wir haben draußen eine Inflation.«

»Ich weiß.« Sie steht unentschlossen. »Der Instanzenweg der Kirche ist leider dafür nicht eingerichtet. Sie denkt in Jahrhunderten. Wir müssen das hinnehmen. Man tut es ja schließlich für Gott und nicht für Geld. Oder nicht?«

»Man kann es für beides tun«, erwidere ich. »Das ist dann ein besonders glücklicher Zustand.«

Sie seufzt. »Wir sind gebunden an die Beschlüsse der Kirchenbehörden. Die werden einmal im Jahr gefaßt, und nicht öfter.«

»Auch für die Gehälter der Herren Pastoren, Domkapitulare und das des Herrn Bischofs?« frage ich.

»Das weiß ich nicht«, sagt sie und errötet etwas. »Aber ich glaube schon.«

Ich habe inzwischen meinen Entschluß gefaßt. »Heute abend habe ich keine Zeit«, erkläre ich. »Wir haben eine wichtige geschäftliche Sitzung.«

»Heute ist ja noch April. Aber nächsten Sonntag – oder, wenn Sie sonntags nicht können, vielleicht einmal in der Woche. Es wäre doch schön, ab und zu eine richtige Mai-Andacht zu haben. Die Muttergottes wird es Ihnen sicher lohnen.«

»Das bestimmt. Da ist nur die Schwierigkeit mit dem Abendessen. Acht Uhr liegt gerade so dazwischen. Hinterher ist es zu spät und vorher ist es eine Hetze.«

»Oh, was das betrifft – Sie könnten natürlich hier essen, wenn Sie wollen. Hochwürden ißt ja auch immer hier. Vielleicht ist das ein Ausweg.«

Es ist genau der Ausweg, den ich wollte. Das Essen hier ist fast so gut wie bei Eduard, und wenn ich mit dem Priester zusammen esse, gibt es bestimmt eine Flasche Wein dazu. Da Eduard sonntags das Abonnement gesperrt hat, ist das sogar ein hervorragender Ausweg.