Es ist nicht wahr. Aber ich kann mir nicht helfen; sie ist so spatzenhaft in ihren schwarzen Kleidern. Wenn sie jetzt einen langen Bibelspruch will, bin ich in der Patsche; den auszuhauen würde mehr als die Platte kosten. Aber sie will nur den Namen und die Zahlen 1875-1923.
Sie zieht aus ihrer Tasche einen Haufen einstmals zerknitterter Scheine, die alle glattgestrichen und gebündelt worden sind. Ich hole tief Luft – Vorauszahlung! Das ist lange nicht mehr dagewesen. Ernsthaft zählt sie drei Päckchen Scheine ab. Sie behält fast nichts übrig. »Dreißigtausend. Wollen Sie es nachzählen?«
»Das brauche ich nicht. Es stimmt schon.«
Es muß stimmen. Sie hat es sicher oft genug gezählt. »Ich will Ihnen etwas sagen«, erkläre ich. »Wir geben Ihnen noch eine Grabeinfassung aus Zement dazu. Das sieht dann sehr ordentlich aus – abgegrenzt.«
Sie sieht mich ängstlich an. »Umsonst«, sage ich.
Der Schein eines kleinen, traurigen Lächelns huscht über ihr Gesicht.
»Das ist das erstemal, daß jemand freundlich zu mir ist, seit es passiert ist. Nicht einmal meine Tochter – sie sagt, die Schande -«
Sie wischt sich die Tränen ab. Ich bin sehr verlegen und komme mir vor wie der Schauspieler Gaston Münch als Graf Trast in der »Ehre« von Sudermann im Stadttheater. Um mir zu helfen, gieße ich mir, als sie gegangen ist, einen Schluck Korn ein. Dann erinnere ich mich, daß Georg immer noch nicht von seiner Besprechung mit Riesenfeld auf der Bank zurück ist, und ich werde mißtrauisch gegen mich selbst; vielleicht habe ich das mit der Frau nur getan, um Gott zu bestechen. Eine gute Tat gegen die andere – eine Grabeinfassung und eine Inschrift gegen ein Dreimonatsakzept Riesenfelds und eine fette Ladung Granit. Das frischt mich so auf, daß ich einen zweiten Schnaps trinke. Dann sehe ich draußen am Obelisken die Spuren des Feldwebels Knopf, hole einen Eimer Wasser, um sie wegzuschwemmen, und verfluche ihn laut. Knopf aber schläft in seiner Kammer den Schlaf des Gerechten.
»Nur sechs Wochen«, sage ich enttäuscht.
Georg lacht. »Ein Akzept auf sechs Wochen ist nicht zu verachten. Die Bank wollte nicht mehr geben. Wer weiß, wie hoch der Dollar dann schon steht! Dafür hat Riesenfeld versprochen, in vier Wochen wieder vorbeizukommen. Dann können wir einen neuen Abschluß machen.«
»Glaubst du das?«
Georg zuckt die Achseln. »Warum nicht? Vielleicht zieht Lisa ihn wieder her. Er schwärmte auf der Bank noch von ihr wie Petrarca von Laura.«
»Gut, daß er sie nicht bei Tage und aus der Nähe gesehen hat.«
»Das ist bei vielen Dingen gut.« Georg stutzt und sieht mich an. »Wieso bei Lisa? So schlecht sieht sie wahrhaftig nicht aus!«
»Sie hat morgens manchmal schon ganze nette Säcke unter den Augen. Und romantisch ist sie bestimmt nicht. Sie ist ein robuster Feger.«
»Romantisch!« Georg grinst verächtlich. »Was heißt das schon!
Es gibt viele Sorten von Romantik. Und Robustheit hat auch ihre Reize!«
Ich sehe ihn scharf an. Sollte er etwa selbst ein Auge auf Lisa geworfen haben? Er ist merkwürdig verschwiegen in seinen persönlichen Angelegenheiten. »Riesenfeld versteht unter Romantik bestimmt ein Abenteuer in der großen Welt«, sage ich. »Nicht eine Affäre mit der Frau eines Pferdemetzgers.«
Georg winkt ab. »Was ist der Unterschied? Die große Welt benimmt sich heute oft vulgärer als ein Pferdemetzger.«
Georg ist unser Fachmann für die große Welt. Er hält das Berliner Tageblatt und liest es hauptsächlich, um den Nachrichten über Kunst und Gesellschaft zu folgen. Er ist ausgezeichnet informiert. Keine Schauspielerin kann heiraten, ohne daß er es weiß; jede wichtige Scheidung in der Aristokratie ist mit Diamanten in sein Gedächtnis eingeritzt. Er verwechselt nichts, selbst nicht nach drei, vier Ehen; es ist, als führe er Buch darüber. Er kennt alle Theateraufführungen, liest die Kritiken, weiß über die Gesellschaft am Kurfürstendamm Bescheid, und nicht nur das: er verfolgt auch das internationale Leben, die großen Stars und die Königinnen der Gesellschaft – er liest Filmmagazine, und ein Bekannter in England schickt ihm manchmal den »Tatler« und ein paar andere elegante Zeitschriften. Das verklärt ihn dann für Tage. Er selbst ist nie in Berlin gewesen, und im Ausland nur als Soldat, im Kriege in Frankreich. Er haßt seinen Beruf, aber er mußte ihn nach dem Tode seines Vaters übernehmen; Heinrich war zu einfältig dafür. Die Zeitschriften und Bilder helfen ihm etwas über die Enttäuschungen hinweg; sie sind seine Schwäche und seine Erholung.
»Eine vulgäre Dame der großen Welt ist etwas für erlesene Kenner«, sage ich. »Nicht für Riesenfeld. Dieser gußeiserne Satan hat eine mimosenhafte Phantasie.«
»Riesenfeld!« Georg zieht eine geringschätzige Grimasse. Der Herrscher der Odenwaldwerke mit seiner oberflächlichen Lust auf französische Damen ist für ihn ein trostloser Emporkömmling. Was weiß dieser wildgewordene Kleinbürger schon über den deliziösen Skandal bei der Ehescheidung der Gräfin Homburg? Oder über die letzte Premiere der Elisabeth Bergner? Er kennt nicht einmal die Namen! Georg aber weiß den Gotha und das Künstler-Lexikon fast auswendig. »Wir müßten Lisa eigentlich einen Blumenstrauß schicken«, sagt er. »Sie hat uns geholfen, ohne daß sie es weiß.«
Ich sehe ihn wieder scharf an. »Das tu nur selber«, erwidere ich. »Sage mir lieber, ob Riesenfeld ein allseitig poliertes Kreuzdenkmal in die Bestellung hineingeschmissen hat.«
»Zwei. Das zweite verdanken wir Lisa. Ich habe ihm gesagt, wir würden es so aufstellen, daß sie es immer sehen könne. Ihm schien etwas daran zu liegen.«
»Wir können es hier im Büro ans Fenster stellen. Es wird morgens, wenn sie aufsteht, und wenn die Sonne es bescheint, einen starken Eindruck auf sie machen. Ich könnte Memento mori in Gold draufpinseln. Was gibt es heute bei Eduard?«
»Deutsches Beefsteak.«
»Gehacktes Fleisch also. Warum ist zerhacktes Fleisch deutsch?«
»Weil wir ein kriegerisches Volk sind und sogar im Frieden unsere Gesichter in Duellen zerhacken. Du riechst nach Schnaps. Warum? Doch nicht wegen Erna?«
»Nein. Weil wir alle sterben müssen. Mich erschüttert das manchmal noch, trotzdem ich es schon seit einiger Zeit weiß.«
»Das ist ehrenwert. Besonders in unserem Beruf. Weißt du, was ich möchte?«
»Natürlich. Du möchtest Matrose auf einem Walfischfänger sein; oder Koprahändler in Tahiti; oder Nordpolentdecker, Amazonasforscher, Einstein und Scheik Ibrahim mit einem Harem von Frauen zwanzig verschiedener Nationen, einschließlich der Zirkassierinnen, die so feurig sein sollen, daß man sie nur mit einer Asbestmaske umarmen kann.
»Das ist selbstverständlich. Aber außerdem möchte ich noch dumm sein; strahlend dumm. Das ist das größte Geschenk für unsere Zeit.«
»Dumm wie Parzival?«
»Weniger erlöserhaft. Gläubig, friedlich, gesund, bukolisch dumm.«
»Komm«, sage ich. »Du bist hungrig. Unser Fehler ist, daß wir weder wirklich dumm noch wirklich gescheit sind. Immer so dazwischen, wie Affen in den Ästen. Das macht müde und manchmal traurig. Der Mensch muß wissen, wohin er gehört.«
»Tatsächlich?«
»Nein«, erwidere ich. »Das macht ihn auch nur seßhaft und dick. Aber wie wäre es, wenn wir heute abend ins Konzert gingen, um für die Rote Mühle einen Ausgleich zu schaffen? Es wird Mozart gespielt.«
»Ich lege mich heute abend früh schlafen«, erklärt Georg. »Das ist mein Mozart. Geh allein hin. Stelle dich mutig und einsam dem Ansturm des Guten. Es ist nicht ohne Gefahr und richtet mehr Zerstörungen an als schlichte Bosheit.«
»Ja«, sage ich und denke an die spatzenhafte Frau vom Vormittag.
Es ist später Nachmittag. Ich lese die Familiennachrichten der Zeitungen und schneide die Todesanzeigen aus. Das gibt mir immer den Glauben an die Menschheit zurück – besonders nach Abenden, an denen wir unsere Lieferanten oder Agenten bewirten mußten. Wenn es nach den Todesanzeigen ginge, wäre der Mensch nämlich absolut vollkommen. Es gibt da nur perfekte Väter, makellose Ehemänner, vorbildliche Kinder, uneigennützige, sich aufopfernde Mütter, allerseits betrauerte Großeltern, Geschäftsleute, gegen die Franziskus von Assisi ein hemmungsloser Egoist gewesen sein muß, gütetriefende Generäle, menschliche Staatsanwälte, fast heilige Munitionsfabrikanten – kurz, die Erde scheint, wenn man den Todesanzeigen glaubt, von einer Horde Engel ohne Flügel bewohnt gewesen zu sein, von denen man nichts gewußt hat. Liebe, die im Leben wahrhaftig nur selten rein vorkommt, leuchtet im Tode von allen Seiten und ist das häufigste, was es gibt. Es wimmelt nur so von erstklassigen Tugenden, von treuer Sorge, von tiefer Frömmigkeit, von selbstloser Hingabe, und auch die Hinterbliebenen wissen, was sich gehört – sie sind von Kummer gebeugt, der Verlust ist unersetzlich, sie werden den Verstorbenen nie vergessen – es ist erhebend, das zu lesen, und man könnte stolz sein, zu einer Rasse zu gehören, die so noble Gefühle hat.