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Ich schneide die Todesanzeige des Bäckermeisters Niebuhr aus. Er wird als gütiger, treubesorgter, geliebter Gatte und Vater geschildert. Ich selbst habe Frau Niebuhr mit aufgelösten Flechten aus dem Hause fliehen sehen, wenn der gütige Niebuhr mit seinem Hosenriemen hinter ihr her war und auf sie einschlug; und ich habe den Arm gesehen, den der treusorgende Vater seinem Sohne Roland gebrochen hat, als er ihn in einem Anfall von Jähzorn aus dem Fenster der Parterrewohnung warf. Es konnte der schmerzgebeugten Witwe gar nichts Besseres passieren, als daß dieser Wüterich endlich, vom Schlag getroffen, beim Backen der Morgenbrötchen und der Hefekuchen dahinsank; trotzdem aber glaubt sie das plötzlich nicht mehr. Alles, was Niebuhr angerichtet hat, ist durch den Tod weggewischt. Er ist ein Ideal geworden. Der Mensch, der immer ein erstaunliches Talent zur Selbsttäuschung und Lüge hat, läßt es bei Todesfällen besonders hell glänzen und nennt es Pietät. Das erstaunlichste aber ist, daß er das, was er dann behauptet, selbst bald so fest glaubt, als hätte er eine Ratte in einen Hut gesteckt und gleich darauf ein schneeweißes Kaninchen herausgezogen.

Frau Niebuhr hat diese magische Verwandlung durchgemacht, als man den backenden Lumpen, der sie täglich verhaute, die Treppe heraufschleppte. Anstatt auf die Knie zu fallen und Gott für die Befreiung zu danken, begann in ihr sofort die Verklärung durch den Tod. Weinend stürzte sie sich auf den Leichnam, und seitdem sind ihre Augen nicht trocken geworden. Ihrer Schwester, die sie an die vielen Prügel und an Rolands falsch geheilten Arm erinnerte, erklärte sie indigniert, das seien Kleinigkeiten, und die Hitze des Backofens sei schuld daran gewesen; Niebuhr, in seiner nie ermüdenden Sorge für die Familie, habe zuviel gearbeitet, und der Backofen habe bei ihm ab und zu wie ein Sonnenstich gewirkt. Damit wies sie ihrer Schwester die Tür und trauerte weiter. Sie ist sonst eine vernünftige, redliche und arbeitsame Frau, die weiß, was los ist, aber jetzt sieht sie Niebuhr auf einmal so, wie er niemals war, und glaubt es fest, und das ist es, was so bewundernswert daran ist. Der Mensch ist nämlich nicht nur ein ewiger Lügner, sondern auch ein ewiger Gläubiger; er glaubt an das Gute und Schöne und Vollkommene, selbst wenn es nicht vorhanden ist oder nur sehr rudimentär – und das ist der zweite Grund dafür, daß mich das Lesen der Todesanzeigen erbaut und zum Optimisten macht.

Ich lege die Anzeige Niebuhrs zu den sieben anderen, die ich herausgeschnitten habe. Montags und dienstags haben wir immer ein paar mehr als sonst. Das Wochenende tut das; es wird gefeiert, gegessen, getrunken, gestritten, sich aufgeregt – und das Herz, die Arterien und der Schädel halten es diesmal nicht mehr aus. Frau Niebuhrs Anzeige lege ich in das Fach für Heinrich Kroll. Es ist ein Fall für ihn. Er ist ein aufrechter Mann ohne Ironie und hat von der verklärenden Wirkung des Todes dieselbe Vorstellung wie sie, solange sie bei ihm einen Grabstein bestellt. Es wird ihm leichtfallen, von dem teuren, unvergeßlichen Dahingegangenen zu reden, zumal Niebuhr ein Stammtischbruder aus der Gastwirtschaft Blume war.

Meine Arbeit ist für heute beendet. Georg Kroll hat sich mit den neuen Nummern des Berliner Tageblattes und der »Eleganten Welt« in seine Koje neben dem Büro zurückgezogen. Ich könnte noch die Zeichnung eines Kriegerdenkmals mit bunter Kreide etwas weiter ausführen; aber dazu ist morgen auch noch Zeit. Ich schließe die Schreibmaschine und öffne das Fenster. Aus Lisas Wohnung tönt ein Grammophon. Sie erscheint, völlig angezogen diesmal, und schwenkt ein mächtiges Bukett roter Rosen aus dem Fenster. Dabei wirft sie mir eine Kußhand zu. Georg! denke ich. Also doch, dieser Schleicher! Ich deute auf sein Zimmer. Lisa lehnt sich aus dem Fenster und krächzt mit ihrer heiseren Stimme über die Straße:»Herzlichen Dank für die Blumen! Ihr Totenvögel seid doch Kavaliere!«

Sie zeigt ihr räuberisches Gebiß und schüttelt sich vor Lachen über ihren Witz. Dann holt sie einen Brief hervor. »Gnädigste«, krächzt sie. »Ein Bewunderer Ihrer Schönheit erlaubt sich, Ihnen diese Rosen zu Füßen zu legen.« Sie holt heulend Atem. »Und die Adresse! An die Circe der Hakenstraße 5. Was ist eine Circe?«

»Eine Frau, die Männer in Schweine verwandelt.«

Lisa bebt, sichtlich geschmeichelt. Das kleine alte Haus scheint mit zu beben. Das ist nicht Georg, denke ich. Er hat nicht völlig den Verstand verloren.

»Von wem ist der Brief?« frage ich.

»Alexander Riesenfeld«, krächzt Lisa. »Per Adresse Kroll & Söhne. Riesenfeld!« Sie schluchzt fast. »Ist das der Kleine, Miese, mit dem ihr in der Roten Mühle wart?«

»Er ist nicht klein und mies«, erwidere ich. »Er ist ein Sitzriese und sehr männlich. Außerdem ist er Billiardär!« Lisas Gesicht wird einen Augenblick nachdenklich. Dann winkt und grüßt sie noch einmal und verschwindet. Ich schließe das Fenster. Ohne Grund fällt mir plötzlich Erna ein. Ich beginne unbehaglich zu pfeifen und schlendere durch den Garten zum Schuppen hinüber, in dem der Bildhauer Kurt Bach arbeitet.

Er sitzt mit seiner Gitarre vor der Tür auf den Stufen. Hinter ihm schimmert der Sandsteinlöwe, den er für ein Kriegerdenkmal zurechthaut. Es ist die übliche sterbende Katze mit Zahnschmerzen.

»Kurt«, sage ich. »Wenn du auf der Stelle einen Wunsch erfüllt bekommen könntest, was würdest du dir wünschen?«

»Tausend Dollar«, erwidert er, ohne nachzudenken, und greift einen schmetternden Akkord auf seiner Gitarre.

»Pfui Teufel! Ich dachte, du wärest ein Idealist.«

»Ich bin ein Idealist. Deshalb wünsche ich mir ja tausend Dollar. Idealismus brauche ich mir nicht zu wünschen. Davon habe ich massenhaft selbst. Was mir fehlt, ist Geld.«

Dagegen ist nichts zu sagen. Es ist fehlerlose Logik. »Was würdest du mit dem Gelde machen?« frage ich, mit noch etwas Hoffnung.

»Ich würde mir einen Häuserblock kaufen und von den Mieten leben.«

»Schäm dich!« sage ich. »Das ist alles? Von den Mieten kannst du übrigens nicht leben, sie sind zu niedrig, und du darfst sie nicht steigern. Du könntest also nicht einmal die Reparaturen davon bezahlen und müßtest die Häuser bald wieder verkaufen.«

»Nicht die Häuser, die ich kaufen würde! Ich würde sie behalten, bis die Inflation vorbei ist. Dann bringen sie wieder richtige Mieten, und ich brauche nur zu kassieren.«

Bach greift einen neuen Akkord. »Häuser«, sagt er versonnen, als spräche er von Michelangelo. »Für hundert Dollar kannst du heute schon eines kaufen, das früher vierzigtausend Goldmark wert war. Was man da verdienen könnte! Warum habe ich keinen kinderlosen Onkel in Amerika?«

»Das ist jammervoll!« sage ich enttäuscht. »Du bist anscheinend über Nacht zu einem ekelhaften Materialisten herabgesunken. Hausbesitzer! Und wo bleibt deine unsterbliche Seele?«

»Hausbesitzer und Bildhauer.« Bach gibt eine Glissando-Passage zum besten. Über ihm hämmert der Tischler Wilke den Takt dazu. Er macht einen eiligen weißen Kindersarg zum Überstundentarif. »Dann brauche ich keine verdammten sterbenden Löwen und auffliegenden Adler mehr für euch zu machen! Keine Tiere! Nie wieder Tiere! Tiere soll man essen oder bewundern. Sonst nichts. Ich habe genug von Tieren. Besonders von heroischen.« Er beginnt den Jäger aus Kurpfalz zu spielen. Ich sehe, daß mit ihm heute abend kein anständiges Gespräch zu führen ist. Besonders nicht eines, bei dem man untreue Frauen vergißt. »Was ist der Sinn des Lebens?« frage ich noch im Gehen.