III
Es ist Sonntag früh. Die Glocken läuten von allen Türmen, und die Irrlichter des Abends sind zerstoben. Der Dollar steht immer noch auf sechsunddreißigtausend, die Zeit hält den Atem an, die Wärme hat den Kristall des Himmels noch nicht geschmolzen, und alles scheint klar und unendlich rein, es ist die eine Stunde am Morgen, wo man glaubt, daß selbst dem Mörder vergeben wird und daß gut und böse belanglose Worte sind.
Ich ziehe mich langsam an. Die kühle, sonnige Luft weht durch das offene Fenster. Schwalben blitzen stählern unter dem Torbogen durch. Mein Zimmer hat, wie das Büro darunter, zwei Fenster, eines zum Hof und eines zur Straße. Ich lehne einen Augenblick im Hoffenster und sehe in den Garten. Plötzlich tönt ein erstickter Schrei durch die Stille, dem ein Gurgeln und Stöhnen folgt. Es ist Heinrich Kroll, der im andern Flügel schläft. Er hat wieder einmal einen seiner Alpträume. 1918 ist er verschüttet worden, und heute, fünf Jahre später, träumt er immer noch ab und zu davon.
Ich koche auf meinem Spirituskocher Kaffee, in den ich einen Schluck Kirsch gieße. Ich habe das in Frankreich gelernt, und Schnaps habe ich trotz der Inflation immer noch. Mein Gehalt reicht zwar nie aus für einen neuen Anzug – ich kann dafür einfach das Geld nicht zusammensparen, es wird zu rasch wertlos -, aber für kleine Sachen genügt es, und darunter natürlich, als Trost, ab und zu für eine Flasche Schnaps.
Ich esse mein Brot mit Margarine und Pflaumenmarmelade. Die Marmelade ist gut, sie stammt aus den Vorräten von Mutter Kroll. Die Margarine ist ranzig, aber das macht nichts; im Kriege haben wir alle schlechter gegessen. Dann mustere ich meine Garderobe. Ich besitze zwei zu Zivilanzügen umgearbeitete Militäruniformen. Der eine ist blau, der andere schwarz gefärbt – viel mehr war mit dem graugrünen Stoff nicht zu machen. Außerdem habe ich noch einen Anzug aus der Zeit, bevor ich Soldat wurde. Er ist ausgewachsen, aber es ist ein richtiger Zivilanzug, kein umgearbeiteter oder gewendeter, und deshalb ziehe ich ihn heute an. Er paßt zu der Krawatte, die ich gestern nachmittag gekauft habe und die ich heute tragen will, damit Isabelle sie sieht.
Friedlich wandere ich durch die Straßen der Stadt. Werdenbrück ist eine alte Stadt von 60 000 Einwohnern, mit Holzhäusern und Barockbauten und scheußlichen neuen Vierteln dazwischen. Ich durchquere sie und gehe zur anderen Seite hinaus, eine Allee mit Roßkastanien entlang und dann einen kleinen Hügel hinauf, auf dem sich in einem großen Park die Irrenanstalt befindet. Sie liegt still und sonntäglich da, Vögel zwitschern in den Bäumen, und ich gehe hin, um in der kleinen Kirche der Anstalt für die Sonntagsmesse die Orgel zu spielen. Ich habe das während meiner Vorbereitungen zum Schulmeister gelernt und diese Stellung vor einem Jahr als Nebenberuf geschnappt. Ich habe mehrere solcher Nebenberufe. Einmal in der Woche erteile ich den Kindern des Schuhmachermeisters Karl Brill Klavierunterricht und bekomme dafür meine Schuhe besohlt und etwas Geld – und zweimal in der Woche gebe ich dem flegeligen Sohn des Buchhändlers Bauer Nachhilfestunden, ebenfalls für etwas Geld und das Recht, alle neuen Bücher zu lesen und Vorzugspreise zu bekommen, wenn ich welche kaufen will. Diese Vorzugspreise werden natürlich vom gesamten Dichterklub ausgenützt, sogar von Eduard Knobloch, der dann auf einmal mein Freund ist.
Die Messe beginnt um neun Uhr. Ich sitze an der Orgel und sehe die letzten Patienten hereinkommen; Sie kommen leise und verteilen sich auf die Bänke. Ein paar Wärter und Schwestern sitzen zwischen ihnen und an den Seiten. Alles geht sehr behutsam zu, viel lautloser als in den Bauernkirchen, in denen ich zur Zeit meiner Schulmeisterei gespielt habe. Man hört nur das Gleiten der Schuhe auf dem Steinboden; sie gleiten, sie trampeln nicht. Es ist das Geräusch der Schritte von Menschen, deren Gedanken weit weg sind.
Vor dem Altar sind die Kerzen angezündet. Durch das bunte Glas der Fenster fällt das Licht von draußen gedämpft herein und mischt sich mit dem Kerzenschein zu einem sanften, rot und blau überwehten Gold. Darin steht der Priester in seinem brokatenen Meßgewand, und auf den Stufen des Altars knien die Meßdiener in ihren roten Talaren mit den weißen Überwürfen.
Ich ziehe die Register der Flöten und der Vox humana und beginne. Mit einem Ruck wenden sich die Köpfe der Irren in den vorderen Reihen um, alle auf einmal, als würden sie an einer Schnur herumgezogen. Ihre bleichen Gesichter mit den dunklen Augenhöhlen starren ausdruckslos nach oben zur Orgel. Sie schweben wie flache helle Scheiben in dem dämmernden goldenen Licht, und manchmal, im Winter, im Dunkeln, sehen sie aus wie große Hostien, die darauf warten, daß der Heilige Geist in sie einkehre. Sie gewöhnen sich nicht an die Orgel; sie haben keine Vergangenheit und keine Erinnerung, und jeden Sonntag treffen die Flöten und Geigen und die Gamben ihre entfremdeten Gehirne unerwartet und neu. Dann beginnt der Priester am Altar, und sie wenden sich ihm zu.
Nicht alle Irren folgen der Messe. In den hinteren Reihen sitzen viele, die sich nicht bewegen. Sie sitzen da, als wären sie eingehüllt in eine furchtbare Trauer und um sie wäre nichts als Leere – aber vielleicht scheint einem das auch nur so. Vielleicht sind sie in ganz anderen Welten, in die kein Wort des gekreuzigten Heilands klingt, harmlos und ohne Verstehen einer Musik hingegeben, gegen die die Orgel blaß und grob klingt. Und vielleicht auch denken sie gar nichts – gleichgültig wie das Meer, das Leben und der Tod. Nur wir beseelen die Natur. Wie sie sein mag, wenn sie sie selbst ist – vielleicht wissen es die Köpfe da unten; aber sie können das Geheimnis nicht verraten. Was sie sehen, hat sie stumm gemacht. Manchmal ist es, als wären sie die letzten Abkommen der Turmbauer von Babel, ihre Sprache sei verwirrt und sie könnten nicht mehr mitteilen, was sie von der obersten Terrasse aus gesehen haben.
Ich spähe nach der ersten Reihe. An der rechten Seite, in einem Flirren von Rosa und Blau sehe ich den dunklen Kopf Isabelles. Sie kniet sehr gerade und schlank in der Bank. Ihr schmaler Kopf ist zur Seite geneigt wie bei einer gotischen Statue. Ich stoße die Gamben und die Register der Vox humana zurück und ziehe die Vox Celeste. Es ist das sanfteste und entrückteste Register der Orgel. Wir nähern uns der heiligen Wandlung. Brot und Wein werden in den Leib und das Blut Christi verwandelt. Es ist ein Wunder – ebenso wie jenes andere, daß aus Staub und Lehm der Mensch geworden sei. Riesenfeld behauptet, das dritte wäre, daß der Mensch mit diesem Wunder nicht viel mehr anzufangen gewußt habe, als seinesgleichen auf immer großzügigere Weise auszunutzen und umzubringen und die kurze Frist zwischen Geburt und Tod mit soviel Egoismus wie nur möglich vollzustopfen, obschon für jeden doch nur eines absolut sicher sei von Beginn: daß er sterben müsse. Das sagt Riesenfeld von den Odenwälder Granitwerken, einer der schärfsten Kalkulatoren und Draufgänger im Geschäft des Todes. Agnus Dei qui tollis peccata mundi.
Ich erhalte nach der Messe von den Schwestern der Anstalt ein Frühstück aus Eiern, Aufschnitt, Bouillon, Brot und Honig. Das gehört zu meinem Vertrag. Ich komme damit gut über das Mittagessen hinweg; denn sonntags gelten Eduards Eßkarten nicht. Außerdem erhalte ich tausend Mark, eine Summe, für die ich gerade mit der Straßenbahn hin- und zurückfahren kann, wenn ich will. Ich habe nie eine Erhöhung verlangt. Warum, weiß ich nicht; bei dem Schuster Karl Brill und den Nachhilfestunden für den Sohn des Buchhändlers Bauer kämpfe ich darum wie ein wilder Ziegenbock.
Nach dem Frühstück gehe ich in den Park der Anstalt. Es ist ein schönes, weitläufiges Gelände mit Bäumen, Blumen und Bänken, umgeben von einer hohen Mauer, und man könnte glauben, in einem Sanatorium zu sein, wenn man nicht die vergitterten Fenster sähe.