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Catalina Yarber hatte mir deren Grundzüge in fünf Minuten erklären können, als wir in jener Nacht zusammen waren. Diese Welt ist unwesentlich, so behaupten die Transiter, und unsere Wanderung hienieden ist eine kurze, eine rasche, unerhebliche Reise. Wir ziehen durch diese Welt, werden wieder in sie hineingeboren, ziehen aufs neue hindurch, immer wieder kehren wir zurück, bis wir zuletzt vom Kreislauf des Karma befreit sind und in die selige Auflösung Nirvanas eingehen, in der wir eins mit dem Kosmos werden. Was uns an den Kreislauf fesselt, ist die Verhaftung an unser Ego: Wir klammern uns an Dinge und Bedürfnisse und Freuden, an die Befriedigungen des Ich, und solange wir ein Ich bewahren, das Befriedigung verlangt, werden wir immer aufs neue in diesen öden, bedeutungslosen kleinen Dreckklumpen hineingeboren. Wenn wir zu einer höheren Ebene vordringen und schließlich das Höchste erreichen wollen, müssen wir unsere Seelen in der Feuerprobe der Entsagung läutern.

Alles das ist ziemlich orthodoxe östliche Theologie. Der Knüller an Transit ist seine Betonung der Unbeständigkeit und Veränderlichkeit. Verwandlung ist alles; Wechsel ist wesentlich, Stillstand tötet; rigide Beständigkeit ist der Weg zu unerwünschten Wiedergeburten. Transit-Prozesse zielen auf immerwährende Evolutionen, auf unaufhörlichen quecksilbrigen Fluß des Geistes und ermutigen unberechenbares, ja, exzentrisches Verhalten. Darin liegt seine Anziehungskraft: die Heiligsprechung der Spinnerei. Das Universum, so sagen die Proktoren, ist in ständigem Fluß, nie können wir zweimal in denselben Fluß steigen; wir müssen fließen und nachgeben; wir müssen geschmeidig, vielgestaltig, kaleidoskopisch, merkurisch sein; wir müssen das Wissen annehmen, daß Dauerhaftigkeit eine häßliche Täuschung und alles, wir selbst eingeschlossen, in endloser, schwindelerregender Verwandlung begriffen ist. Aber wiewohl das Universum flüssig und unberechenbar ist, sind wir doch nicht dazu verdammt, aufs Geratewohl in seinen Winden zu treiben. Nein, sagen sie uns: Weil nichts determiniert, weil nichts unabänderlich vorherbestimmt ist, unterliegt alles unserer individuellen Kontrolle. Wir sind die Erschaffer unseres Schicksals, und wir sind frei, die Wahrheit zu sehen und ihr gemäß zu handeln. Was ist die Wahrheit? Daß wir aus freien Stücken wählen müssen, nicht wir selbst zu sein, daß wir unser festgeformtes Bild von uns selbst zertrümmern müssen, denn nur, wenn die Transit-Prozesse ungehindert fließen, können wir die Bindung an unser Ego lösen, die uns auf transitlosen, niederen Ebenen festhält.

Diese Lehren waren für mich bedrohlich. Chaos behagt mir nicht. Ich glaube an Ordnung und Vorhersagbarkeit. Meine Fähigkeit des zweiten Gesichts, meine angeborene Stochastizität, beruht auf dem Gefühl, daß Regelmäßigkeiten und Muster existieren, daß Wahrscheinlichkeiten real sind. Obwohl es nicht sicher ist, daß Teewasser über einer Flamme kochen oder daß ein in die Luft geworfener Stein fallen wird, ziehe ich es doch vor zu glauben, daß diese Ereignisse höchstwahrscheinlich stattfinden werden. Die Transiter, so kam es mir vor, bemühten sich um die Abschaffung solcher Wahrscheinlichkeit: Über einer Flamme Eistee herzustellen, war ihr Ziel.

Nach Hause zu kommen, wurde zu einem Abenteuer.

Eines Tages waren die Möbel umgestellt. Alles. All die sorgsam berechneten Effekte waren zerstört. Drei Tage später fand ich die Möbel wieder in einer neuen, noch plumperen Aufstellung. Beide Male sagte ich nichts dazu, und ungefähr nach einer Woche ordnete Sundara alles wieder so, wie es zuvor gewesen war.

Sundara färbte ihr Haar rot. Der Effekt war schauerlich.

Sechs Tage lang hatte sie eine weiße, schielende Katze bei sich.

Sie bat mich, sie zu einer Dienstagabendsitzung zu begleiten, und ich erklärte mich einverstanden, aber eine Stunde, bevor wir aufbrechen wollten, sagte sie mir ab und ging ohne mich — eine Erklärung gab sie nicht.

Sie war in den Händen der Apostel des Chaos. Liebe zeugt Geduld; daher hatte ich Geduld mit ihr. Auf welche Weise sie auch ihren Kampf gegen den Stillstand ausfocht, ich war geduldig. Es geht vorüber, sagte ich mir. Es geht vorüber.

15

Am 9. Mai 1999 träumte ich, zwischen vier und fünf Uhr in der Frühe, daß Staatskontrolleur der Finanzen Gilmartin von einem Exekutionskommando erschossen wurde.

Ich kann Datum und Zeit so präzise angeben, weil der Traum so intensiv und lebensecht war und wie die Elf-Uhr-Nachrichten auf dem Bildschirm meines Geistes vorüberzog, daß er mich weckte und ich den Traum mit ein paar Stichworten auf meinem Nachttisch-Tonbandgerät festhielt. Schon vor langer Zeit habe ich gelernt, von Träumen solcher Intensität Notizen zu machen, da sie sich oft als Vorahnungen erweisen. In Träumen kommt die Wahrheit. Josephs Pharao träumte, er stünde an einem Fluß, aus dem sieben fette und sieben magere Kühe stiegen — vierzehn Omen. Calpurnia sah in der Nacht vor den Iden des März im Traum Blut aus der Statue ihres Mannes Cäsar spritzen. Abe Lincoln träumte, er höre das erstickte Schluchzen unsichtbarer Trauernder, und er sah sich, wie er die Treppe hinunterging und im East Room des Weißen Hauses einen Katafalk fand, eine Ehrenwache von Soldaten, einen Leichnam in Grabeshüllen auf der Bahre und eine Schar weinender Bürger. Wer ist tot im Weißen Haus? fragte der träumende Präsident, und man sagt ihm, der Tote sei der Präsident, von einem Attentäter niedergestreckt. Lange bevor Carvajal in mein Leben trat, wußte ich, daß die Ankertaue der Zukunft schwach sind, daß Eisschollen der Zeit losbrechen und über das große Meer zurück in unser schlafendes Gemüt treiben. So behandelte ich denn meinen Gilmartin-Traum achtsam.

Ich sah ihn, einen großen Mann mit rundlichem Gesicht und kalten blauen Augen, wie er, feist, blaß und schwitzend, von einem Kommando finster blickender Soldaten in schwarzen Uniformen in einen nackten, staubigen Hof geschleppt wurde, in den wütendes Sonnenlicht scharfe, harte Schatten warf. Ich sah ihn, wie er an seinen Fesseln zerrte, schnaubend, sich windend, flehend, seine Unschuld beteuernd. Die Soldaten, die Schulter an Schulter stehen, ihre Gewehre heben; ein endloser Augenblick schweigsamen Zielens. Gilmartin, der klagt, betet, winselt, ganz zum Schluß noch einen Fetzen von Würde findet, sich aufrichtet, die Schultern breit macht, seine Mörder trotzig ansieht. Der Befehl, das Krachen der Gewehre, der Körper, der zuckt und sich schauderhaft krümmt, zu Boden sackt…

Wie sollte ich diesen Traum verstehen? War es eine Ankündigung bevorstehender Schwierigkeiten für Gilmartin, der der Quinn-Verwaltung in Finanzdingen Schwierigkeiten gemacht hatte und den ich nicht mochte, oder war der Traum nur der Ausdruck meines Wunsches? Vielleicht ein Attentat, das auf ihn lauerte? Attentate waren in den frühen Neunzigern eine große Sache gewesen, mehr noch als in den blutigen Kennedy-Jahren, aber ich glaubte, sie seien wieder aus der Mode gekommen. Wer würde auch schon einen farblosen alten Gaul wie Gilmartin ermorden? Vielleicht handelte es sich um eine Vorahnung, daß Gilmartin bald auf natürliche Weise sterben würde? Allerdings brüstete er sich seiner guten Gesundheit. Ein Unfall? Oder vielleicht Tod nur im metaphorischen Sinne — eine Anklage, ein politischer Streit, ein Skandal, eine Amtsenthebung?

Ich wußte nicht, wie ich meinen Traum interpretieren oder was ich damit machen sollte, und zuletzt beschloß ich, gar nichts zu tun. Und so verpaßten wir den Dampfer im Gilmartin-Skandal, denn darum in der Tat handelte es sich — nicht um Exekution oder Attentat, sondern um Schande, Rücktritt, Gefängnis. Quinn hätte gewaltiges politisches Kapital daraus schlagen können, wenn es Ermittlungsbeamte der Stadt gewesen wären, die Gilmartins Machenschaften aufdeckten, wenn sich der Bürgermeister in gerechtem Zorn erhoben und gesagt hätte, die Stadt werde übers Ohr gehauen, und eine Untersuchung sei notwendig. Aber ich hatte die Zusammenhänge nicht gesehen, und es war ein Buchhalter des Staates, nicht einer von unseren Leuten, der die Geschichte schließlich an den Tag brachte — wie Gilmartin systematisch Millionen von Dollar aus Staatsfonds, die für New York gedacht waren, in die Kassen einiger kleiner Städte im Norden ableitete, und von dort in seine eigene Tasche und die einiger ländlicher Beamten. Zu spät erkannte ich, daß ich zwei Chancen gehabt hatte, Gilmartin zu Fall zu bringen, und beide hatte ich vertan. Einen Monat vor meinem Traum hatte mir Carvajal jenen mysteriösen Zettel gegeben. Behaltet Gilmartin im Auge, hatte er gemahnt. Gilmartin, Ölgelierung, Leydecker. Also?