»Erzähl mir, was du von Carvajal weißt«, bat ich Lombroso.
»Was willst du wissen?«
»Wie erfolgreich ist er wirklich an der Börse?«
»So erfolgreich, daß es schon unheimlich ist. Er hat neun oder zehn Millionen gemacht, von denen ich weiß, und das seit ‘93. Vielleicht viel mehr. Ich bin sicher, er arbeitet über verschiedene Maklerfirmen. Nummernkonten, Strohmänner, alle möglichen Tricks, um zu verbergen, wie viel er wirklich kassiert.«
»Er verdient alles durch Kauf und Verkauf?«
»Alles. Er steigt ein, reitet eine Aktie geradewegs nach oben, steigt aus. Ich hatte Leute in meinem Büro, die Vermögen nur damit machten, seinen Aktionen zu folgen.«
»Ist es möglich«, fragte ich, »daß jemand den Markt über so viele Jahre hinweg so beständig austrickst?«
Lombroso zuckte die Achseln. »Ein paar Leuten ist es gelungen. Wir haben unsere Legenden von großen Händlern bis zurück zu Ich-setz-’ne-Million-Gates. Niemand, den ich kenne, war so beständig wie Carvajal.«
»Hat er Insider-Informationen?«
»Kann er nicht haben. Nicht aus so vielen verschiedenen Firmen. Er kauft und verkauft einfach nur, kauft und verkauft und streicht seine Gewinne ein. Kam eines Tages an, eröffnete ein Konto, keine Bankreferenzen, keine Wall-Street-Verbindungen. Immer Bar-Umsätze. Gespenstisch.«
»Ja«, sagte ich.
»Ein ruhiger kleiner Mann. Sitzt und beobachtet das Band, gibt seine Order. Kein Theater, kein Geschwätz, keine Aufregung.«
»Irrt er sich je?«
»Er hatte einige Verluste, ja. Kleine. Kleine Verluste, große Gewinne.«
»Ich möchte wissen, warum.«
»Warum was?« fragte Lombroso.
»Warum überhaupt Verluste?«
»Selbst ein Carvajal muß fehlbar sein.«
»Wirklich?« sagte ich. »Vielleicht verliert er aus strategischen Gründen. Kalkulierte Rückschläge, um die Leute in dem Glauben zu bestärken, daß er auch nur menschlich ist. Oder um andere davon abzuhalten, automatisch seinen Aktionen zu folgen und die Fluktuationen zu verzerren.«
»Glaubst du nicht, daß er nur ein Mensch ist, Lew?«
»Doch, ich glaube, er ist ein Mensch.«
»Aber…?«
»Aber mit einer sehr speziellen Gabe.«
»Der Gabe, Aktien auszusuchen, die steigen werden. Sehr speziell.«
»Mehr als das.«
»Mehr wie?«
»Kann ich noch nicht sagen.«
»Warum fürchtest du dich vor ihm, Lew?« fragte Lombroso.
»Hab’ ich gesagt, ich fürchte mich? Wann?«
»An dem Tag, als er hierher kam, sagtest du mir, daß dir vor ihm gruselt, daß er eine beängstigende Ausstrahlung hat. Erinnerst du dich?«
»Ja, das hab’ ich wohl gesagt.«
»Du meinst, er hext? Du meinst, daß er eine Art Zauberer ist?«
»Ich kenne die Wahrscheinlichkeitstheorie, Bob. Wenn es eine Sache ist, die ich kenne, dann ist es die Wahrscheinlichkeitstheorie. Carvajal hat ein paar Dinge getan, die über normale Wahrscheinlichkeitskurven hinausgehen. Das eine ist sein Erfolg an der Börse. Das andere ist die Gilmartin-Sache.«
»Vielleicht kriegt er seine Zeitung einen Monat im voraus zugestellt«, sagte Lombroso.
Er lachte. Ich nicht.
Ich sagte: »Ich habe keinerlei Hypothesen. Ich weiß nur, Carvajal und ich arbeiten in derselben Branche, und er ist so viel besser als ich, daß es gar keinen Vergleich gibt. Ich sage dir, ich bin bestürzt, und ein bißchen habe ich Angst.«
Lombroso, der in seiner Ruhe fast gönnerhaft wirkte, ging gelassen quer durch sein majestätisches Büro und blickte in seine Vitrine mit den mittelalterlichen Schätzen. Schließlich sagte er, mit dem Rücken zu mir: »Du bist übertrieben melodramatisch, Lew. Die Welt ist voller Menschen, die gut raten. Du selbst bist einer davon. Zugegeben, er hat mehr Glück als die meisten, aber das heißt nicht, daß er die Zukunft sehen kann.«
»In Ordnung, Bob.«
»Oder? Wenn du zu mir kommst und mir sagst, die Wahrscheinlichkeit einer ungünstigen Reaktion der Öffentlichkeit auf dieses oder jenes Gesetzesvorhaben sei soundso hoch, siehst du dann in die Zukunft, oder rätst du bloß? Du hast niemals behauptet, ein Hellseher zu sein, Lew. Und Carvajal…«
»In Ordnung!«
»Ruhig, Mann.«
»Entschuldige bitte.«
»Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«
»Ich möchte das Thema wechseln«, sagte ich.
»Worüber möchtest du sprechen?«
»Ölgelierungsgesetze.«
Er nickte bereitwillig. »Der Stadtrat«, sagte er, »hat schon seit Ende des Winters eine Gesetzesvorlage im Ausschuß, nach der alles Öl an Bord von Tankern, die in den New Yorker Hafen kommen, geliert sein muß. Die Umweltschützer sind natürlich dafür, und natürlich sind die Ölgesellschaften dagegen. Die Verbrauchergruppen sind nicht besonders glücklich darüber, weil das Gesetz die Raffinierungskosten hochtreiben wird, was Preissteigerung im Einzelhandel bedeutet. Und…«
»Haben die Tanker nicht schon Gelierungsanlagen an Bord?«
»Ja. Das ist Bundesgesetz seit… oh… seit ‘83 oder so. Das war das Jahr, in dem die großen Ölförderungen im Atlantik, nicht weit vor der Ostküste, losgingen. Wenn ein Tanker einen Unfall hat, der Risse und Lecks verursacht, und die Gefahr eines Ölaustritts besteht, werden über ein Düsensystem chemische Gelierungsagenzien in das Rohöl gesprüht, die das Öl in einen festen Klumpen verwandeln. Das hält das Öl im Innern des Tanks, und selbst wenn das Schiff auseinander bricht, treibt das gelierte Öl in großen Brocken auf dem Wasser und kann leicht aufgefischt werden. Dann müssen sie das Gel einfach nur auf — wie viel war es, 55 Grad? — erhitzen, und es wird wieder zu öl. Aber es dauert schon drei oder vier Stunden, das Zeug in einen dieser riesigen Tanks zu sprühen, und noch mal sieben oder acht Stunden, bis das Öl geliert; für einen Zeitraum von ungefähr zwölf Stunden nach dem Beginn des Prozesses ist das öl also noch flüssig, und in zwölf Stunden kann viel Öl austreten. Daher hat Stadtrat Ladrone diesen Entwurf eingebracht, der verlangt, daß Öl routinemäßig geliert wird, wenn es auf dem Seeweg zu den Raffinerien transportiert wird; es soll also nicht mehr nur eine Notmaßnahme für den Fall sein, daß ein Tanker leckt. Aber die politischen Probleme sind…«
»Zieh es durch«, sagte ich.
»Ich habe einen Stoß von Pro- und Contra-Gutachten, die ich dir zeigen möchte, bevor…«
»Vergiß sie. Zieh das Gesetz durch, Bob. Hol es aus dem Ausschuß und laß es noch diese Woche verabschieden. Inkrafttretungstermin, sagen wir, erster Juni. Die Ölgesellschaften sollen schreien, soviel sie wollen. Das Gesetz muß verabschiedet werden, und Quinn muß es mit einer sehr sichtbaren schönen Geste unterschreiben.«
»Das große Problem«, sagte Lombroso, »ist das: Wenn New York ein solches Gesetz erläßt und die anderen Städte an der Ostküste nicht, dann wird in New York einfach nicht mehr lange Rohöl gelöscht, das für Raffinerien im Hinterland bestimmt ist, und die Steuereinkünfte, die wir verlieren, werden…«
»Mach dir darüber keine Sorgen. Pioniere müssen ein paar Risiken eingehen. Peitsch das Gesetz durch, und wenn Quinn es unterschreibt, soll er Präsident Mortonson auffordern, dem Kongreß ein ähnliches Gesetz vorzulegen. Quinn soll betonen, daß New York City seine Strande und Häfen um jeden Preis schützen wird, daß er aber hofft, der Rest des Landes werde nicht allzu sehr nachhinken. Kapiert?«