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»Ist heruntergekommen, ja. In sechzig Jahren verändert sich vieles. Aber die Veränderungen sind für mich nicht wahrnehmbar gewesen, nicht in einem wesentlichen Ausmaß. Ein allmählicher Niedergang, Jahr um Jahr, dann vielleicht mal ein steilerer Niedergang, aber ich mache Zugeständnisse, ich passe mich an, ich gewöhne mich an das Neue und füge es in das ein, was immer gewesen ist. Und alles ist mir so wohlvertraut, Mr. Nichols — die Namen, die vor langer Zeit in den feuchten Zement geschrieben wurden, als das Pflaster noch neu war, der große Götterbaum im Schulhof, die verwitterten Fratzen über dem Eingang des Gebäudes gegenüber. Verstehen Sie, was ich meine? Warum sollte ich diese Dinge für eine schicke Wohnung auf Staten Island verlassen?«

»Wegen der Gefahr, zum einen.«

»Es gibt keine Gefahr. Nicht für mich. Für die Leute hier bin ich der kleine Mann, der schon immer hier gewesen ist, ein Symbol der Stabilität, die eine Konstante in einem Universum entropischer Veränderung. Für sie habe ich einen rituellen Wert. Ich bin vielleicht so eine Art Maskottchen. Jedenfalls hat niemand, der hier lebt, mich je belästigt. Und wird es auch in Zukunft nicht.«

»Können Sie dessen sicher sein?«

»Ja«, sagte er mit monolithischer Gewißheit und blickte mir direkt in die Augen; und ich empfand wieder jenes Frösteln, jenes Gefühl, am Rande eines unauslotbaren Abgrundes zu stehen. Ein weiteres langes Schweigen entstand. Kraft strömte von ihm aus — eine Macht, die in vollkommenem Gegensatz zu seiner farblosen Erscheinung stand, seiner sanften Art, seinem stumpfen, ausgebrannten Gesichtsausdruck —, und diese Kraft lähmte mich. Ich weiß nicht, wie lange ich so angefroren dasaß — es hätte eine Stunde sein können. Schließlich sagte er: »Sie wollten mir einige Fragen stellen, Mr. Nichols.«

Ich nickte. Tief Atem holend, stürzte ich mich hinein. »Sie wußten, daß Leydecker dieses Frühjahr sterben würde, nicht wahr? Ich meine, Sie haben nicht einfach nur geraten, daß er sterben würde. Sie wußten es.«

»Ja.« Das gleiche endgültige, unumstößliche Ja.

»Sie wußten, daß Gilmartin in Schwierigkeiten geraten würde. Sie wußten, daß Öltanker ungeliertes Öl verlieren würden.«

»Ja. Ja.«

»Sie wissen, wie die Aktienkurse morgen und übermorgen steigen und fallen werden, und mit diesem Wissen haben Sie Millionen gemacht.«

»Auch das ist wahr.«

»Man kann daher sagen, daß Sie zukünftige Ereignisse mit außergewöhnlicher Klarheit sehen, mit übernatürlicher Klarheit, Mr. Carvajal.«

»So wie Sie.«

»Falsch«, sagte ich. »Ich sehe überhaupt keine zukünftigen Ereignisse. Die Gabe, kommende Dinge zu sehen, geht mir gänzlich ab. Ich bin lediglich ein sehr guter Rater, ich kann Wahrscheinlichkeiten abwägen und die wahrscheinlichste Entwicklung herausfinden, aber ich sehe nicht wirklich. Ich kann niemals sicher sein, ob ich recht habe, nur einigermaßen zuversichtlich. Denn ich rate nur. Sie sehen. Soviel haben Sie mir praktisch schon damals gesagt, als wir uns in Bob Lombrosos Büro trafen: Ich rate, Sie sehen. Die Zukunft ist wie ein Film, der in Ihrem Geist abläuft. Habe ich recht?«

»Das wissen Sie, Mr. Nichols.«

»Ja, ich weiß, ich habe recht. Es ist kein Zweifel möglich. Mir ist bewußt, was mit stochastischen Methoden geleistet werden kann, und was Sie tun, geht über die Möglichkeiten des Ratens hinaus. Vielleicht hätte ich die Wahrscheinlichkeit von ein paar Tankerunglücken vorhersagen können, aber nicht Leydeckers Tod oder den Gilmartin-Skandal. Ich hätte raten können, daß irgendeine politische Schlüsselfigur in diesem Frühjahr sterben würde, aber niemals welche. Ich hätte vielleicht raten können, daß irgendein Politiker gefeuert wird, aber seinen Namen hätte ich nicht nennen können. Ihre Vorhersagen waren genau und spezifisch. Das sind keine Wahrscheinlichkeitsprognosen. Das ist eher wie Zauberei, Mr. Carvajal. Die Zukunft ist der Definition nach unerkennbar. Sie aber scheinen von der Zukunft ziemlich viel zu wissen.«

»Über die unmittelbare Zukunft, ja. Ja, das tue ich, Mr. Nichols.«

»Nur die unmittelbare Zukunft?«

Er lachte. »Glauben Sie, mein Geist durchdringt den ganzen Raum und die ganze Zeit?«

»Zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht die geringste Ahnung, was Ihr Geist alles durchdringt. Ich wünschte, ich wüßte es. Ich würde gerne wissen, wie er funktioniert und was seine Grenzen sind.«

»Er funktioniert so, wie Sie es beschrieben haben«, erwiderte Carvajal. »Wenn ich will, sehe ich. Eine Vision künftiger Dinge läuft in mir ab wie ein Film.« Seine Stimme war vollkommen nüchtern. Fast schien er gelangweilt. »Ist das alles, was Sie hier herausfinden wollten?«

»Wissen Sie es nicht? Sicherlich haben Sie doch den Film von dieser Unterhaltung schon gesehen.«

»Natürlich.«

»Aber Sie haben einige Details vergessen?«

»Ich vergesse selten etwas«, sagte Carvajal seufzend.

»Dann müssen Sie auch wissen, was ich noch fragen werde.«

»Ja«, gab er zu.

»Und trotzdem werden Sie die Frage nicht beantworten, bevor ich sie stelle?«

»So ist es.«

»Angenommen, ich frage nicht«, sagte ich. »Angenommen, ich gehe in diesem Moment einfach weg, ohne das zu tun, was ich angeblich tun werde.«

»Das wird nicht möglich sein«, sagte Carvajal gleichmütig. »Ich erinnere mich an den Verlauf, den diese Unterhaltung nehmen muß, und Sie gehen nicht, bevor Sie Ihre nächste Frage gestellt haben. Die Dinge passieren immer nur auf eine Weise. Sie haben keine andere Wahl als zu tun und zu sagen, was ich tun und sagen gesehen habe.«

»Sind Sie ein Gott, der die Ereignisse meines Lebens bestimmt?«

Er lächelte matt und schüttelte den Kopf. »Durchaus sterblich, Mr. Nichols. Ich bestimme nichts. Ich sage Ihnen nur, daß die Zukunft nicht zu ändern ist. Das, was Sie unter Zukunft verstehen. Wir sind beide nur Schauspieler in einem Stück, das nicht umgeschrieben werden kann. Kommen Sie. Lassen Sie uns unseren Text durchspielen. Fragen Sie mich…«

»Nein. Ich werde das Netz durchreißen und Sie jetzt verlassen.«

»… nach Paul Quinns Zukunft«, sagte er.

Ich war schon an der Tür. Aber als er Quinns Namen aussprach, stockte ich, knieweich, verblüfft, und drehte mich um. Das war natürlich die Frage, die ich hatte stellen wollen, die Frage, deretwegen ich hierher gekommen war, die Frage, die nicht zu stellen ich beschlossen hatte, als ich versuchte, mein kleines Spiel mit der unabänderlichen Zukunft zu spielen! Wie fein Carvajal mich manövriert hatte! Denn nun war ich hilflos, besiegt, gelähmt. Sie mögen denken, ich hätte immer noch die Freiheit gehabt, aus der Tür zu gehen, aber nein, aber nein, nicht, wo er mich mit dem Versprechen des ersehnten Wissens gestachelt hatte, wo er ein weiteres Mal, niederschmetternd und endgültig, die Präzision seiner prophetischen Gabe vorgeführt hatte.

»Sagen Sie es«, murrte ich. »Stellen Sie die Frage.«

Er seufzte. »Wenn Sie es wünschen.«

»Ich bestehe darauf.«

»Sie wollen fragen, ob Paul Quinn Präsident wird.«

»Das ist es«, sagte ich hohl.

»Meine Antwort ist: ich glaube, ja.«

»Sie glauben? Das ist alles, was Sie mir sagen können? Sie glauben, er wird Präsident?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen alles!«

»Nein«, sagte Carvajal. »Nicht alles. Es gibt Grenzen, und Ihre Frage liegt jenseits dieser Grenzen. Die einzige Antwort, die ich Ihnen geben kann, beruht auf Raten, auf ähnlichen Überlegungen, wie sie jeder, der sich für Politik interessiert, anstellen würde. Auf Grund dieser Überlegungen glaube ich, daß Quinn wahrscheinlich Präsident werden wird.«

»Aber Sie wissen es nicht sicher. Sie können ihn nicht als Präsident sehen.«

»Genau.«

»Es ist jenseits Ihrer Reichweite? Nicht in der unmittelbaren Zukunft?«

»Jenseits meiner Reichweite, ja.«