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»Und?«

»Unmöglich. Wie ich es auch anstellte, wenn der Augenblick kam, fand das Ereignis unweigerlich so statt, wie ich es gesehen hatte. Immer. Die Umstände hinderten mich daran, irgend etwas zu verhindern. Viele Male habe ich damit experimentiert, den vorbestimmten Lauf der Ereignisse zu ändern, und ich hatte nie Erfolg; schließlich gab ich den Versuch auf. Seitdem habe ich einfach meine Rolle gespielt, und ich spreche meinen Text so, wie ich weiß, daß er gesprochen werden muß.«

»Und das akzeptieren Sie vollständig?« fragte ich. Ruhelos, aufgewühlt, erhitzt ging ich durch den Raum. »Für Sie ist das Buch der Zeit geschrieben, versiegelt und unveränderbar? Kismet und keine Widerrede?«

»Kismet und keine Widerrede«, sagte er.

»Ist das nicht eine ziemlich verzweifelte Philosophie?«

Er schien leise belustigt. »Das ist keine Philosophie, Mr. Nichols. Es ist die Anpassung an die Natur der Wirklichkeit. Passen Sie auf, ›akzeptieren‹ Sie die Gegenwart?«

»Was?«

»Während die Dinge sich um Sie herum ereignen, erkennen Sie sie als gültige Ereignisse an? Oder betrachten Sie sie als widerruflich und veränderlich, haben Sie das Gefühl, Sie könnten sie im Augenblick des Geschehens ändern?«

»Natürlich nicht. Wie könnte jemand…«

»Genau. Man kann versuchen, der Zukunft eine andere Richtung zu geben, und man kann sogar seine Erinnerung an die Vergangenheit redigieren und neu aufbauen, aber an dem Augenblick selbst, wie er ins Dasein fließt und Gestalt annimmt, kann nicht gerüttelt werden.«

»Und?«

»Anderen Menschen erscheint die Zukunft steuerbar, weil sie unzugänglich, unerreichbar ist. Man hat die Illusion, man könne seine eigene Zukunft erschaffen, sie aus dem Holz der noch nicht geborenen Zeit herausschnitzen. Aber was ich wahrnehme, wenn ich sehe«, sagte er, »ist nur in bezug auf meine zeitweilige Position im Zeitfluß die ›Zukunft‹. In Wirklichkeit ist es ebenso ›Gegenwart‹, die unveränderliche unmittelbare Gegenwart, die ich erlebe, wenn ich auf einer anderen Position im Zeitfluß stehe. Oder vielleicht auf derselben Position in einem anderen Zeitfluß. Oh, ich habe viele kluge Theorien, Mr. Nichols. Aber sie führen alle zu demselben Schluß: Das, was ich wahrnehme, ist nicht eine hypothetische und nur unter bestimmten Bedingungen eintretende Zukunft, die durch Eingriff in die ihr vorhergehenden Entwicklungen modifiziert werden könnte, sondern vielmehr ein wirkliches und unumstößliches Ereignis, so festgelegt wie die Gegenwart oder Vergangenheit. Ich kann es genauso wenig ändern, wie Sie in einen Film eingreifen können, wenn Sie im Kino sitzen. Ich habe das vor langer Zeit begriffen. Und akzeptiert. Und akzeptiert.«

»Wie lange haben Sie schon die Macht zu sehen?«

Achselzuckend sagte Carvajaclass="underline" »Mein ganzes Leben lang, nehme ich an. Als Kind konnte ich sie nicht begreifen; es war wie ein Fieber, das mich überfiel, ein intensiver Traum, ein Delirium. Ich wußte nicht, daß ich… nun, sagen wir, Vorwärtsblenden erfuhr. Aber dann entdeckte ich, daß ich Episoden durchlebte, die ich vorher ›geträumt‹ hatte. Jenes Gefühl von deja vu, das Sie, Mr. Nichols, sicherlich ab und zu auch schon erlebt haben — es war mein täglicher Begleiter. Es gab Zeiten, wo ich mir wie eine Marionette vorkam, die an Schnüren herumzappelte, während jemand von über mir meinen Text sprach. Allmählich entdeckte ich, daß kein anderer das deja vu so oft und so intensiv erlebte wie ich. Ich glaube, ich verstand erst mit zwanzig völlig, wer ich war, und war schon fast dreißig, bevor ich damit wirklich zu Rande kam. Natürlich habe ich mich nie jemandem offenbart; das ist in der Tat heute das erste Mal.«

»Weil es niemanden gab, dem Sie vertrauten?«

»Weil es nicht im Drehbuch war«, sagte er mit aufreizender Lässigkeit.

»Sie haben nie geheiratet?«

»Nein.«

»Wollten Sie?«

»Wie könnte ich das wollen? Wie könnte ich wollen, was ich augenscheinlich nicht gewollt habe? Ich habe nie eine Frau für mich gesehen.«

»Und daher war Ihnen keine Frau zugedacht.«

»Keine Frau zugedacht?« Seine Augen blitzten sonderbar. »Diese Ausdrucksweise mag ich nicht, Mr. Nichols. Sie impliziert, daß das Universum irgendwie bewußt entworfen wurde, daß es einen Autor des großen Drehbuchs gibt. Das glaube ich nicht. Es ist nicht nötig, eine solche Komplikation einzuführen. Das Drehbuch schreibt sich von Moment zu Moment selbst, und es beinhaltete für mich, daß ich allein lebe. Es ist nicht notwendig zu sagen, daß ich allein leben sollte. Es reicht zu sagen, daß ich mich allein leben sah, und daher würde ich allein sein, und daher war ich allein, und daher bin ich allein.«

»Für einen Fall wie Ihren hat die Sprache nicht die richtige Grammatik«, sagte ich.

»Aber Sie können mir folgen?«

»Ich glaube. Könnte man sagen, ›Zukunft‹ und ›Gegenwart‹ sind bloß verschiedene Namen für dieselben Ereignisse, sofern sie von verschiedenen Blickpunkten aus gesehen werden?«

»Keine schlechte Annäherung«, sagte Carvajal. »Ich neige eher zu der Formulierung, daß alle Ereignisse gleichzeitig sind, und was sich bewegt, ist unsere Wahrnehmung der Ereignisse, der bewegliche Punkt des Bewußtseins, nicht die Ereignisse selber.«

»Und manchmal ist es jemandem gegeben, Ereignisse zur gleichen Zeit von verschiedenen Blickpunkten aus zu sehen, ja?«

»Ich habe viele Theorien«, sagte er vage. »Irgendeine davon trifft vielleicht zu. Entscheidend ist die Vision selbst, nicht die Erklärung. Und die Vision habe ich.«

»Sie hätten damit Millionen machen können«, sagte ich und machte eine Geste, die das schäbige Apartment meinte.

»Habe ich.«

»Nein, ich meine ein wirklich gigantisches Vermögen, Rockefeller plus Getty plus Croesus, ein Geldreich von einem Ausmaß, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Macht. Gipfel des Luxus. Vergnügungen. Frauen, Kontrolle über ganze Kontinente.«

»Das stand nicht im Drehbuch«, sagte Carvajal.

»Und Sie akzeptierten das Drehbuch.«

»Das Drehbuch läßt nichts anderes zu, als daß man es akzeptiert. Ich dachte, den Punkt hätten Sie verstanden.«

»Sie haben also Geld gemacht, viel Geld, aber nichts im Vergleich mit dem, das sie hätten machen können, und es hat Ihnen nichts bedeutet? Sie haben es sich einfach aufhäufen lassen wie fallende Herbstblätter?«

»Ich brauchte es nicht. Meine Bedürfnisse sind gering, und mein Geschmack ist schlicht. Ich habe es aufgehäuft, weil ich gesehen habe, daß ich an der Börse spekulierte und reich wurde. Wenn ich sehe, daß ich etwas tue, dann tue ich es.«

»Immer laut Drehbuch. Keine Fragen nach dem Warum.«

»Keine Fragen.«

»Millionen Dollar. Was haben Sie damit gemacht?«

»Ich habe es so benützt, wie ich es gesehen habe. Einen Teil habe ich weggegeben, an die Wohlfahrt, an Universitäten, an Politiker.«

»Nach Ihren eigenen Neigungen oder nach dem Muster, dessen Entfaltung Sie gesehen haben?«

»Ich habe keine Neigungen«, sagte er ruhig.

»Und den Rest des Geldes?«

»Habe ich behalten. Auf Bankkonten. Was hätte ich damit tun sollen? Es war mir nie wichtig. Wie Sie sagen, bedeutungslos. Eine Million, fünf Millionen, zehn Millionen — nur Worte.« Ein merkwürdiger Ton von Nachdenklichkeit schlich sich in seine Stimme. »Was hat schon Bedeutung? Was bedeutet Bedeutung? Wir folgen nur dem Drehbuch, Mr. Nichols. Hätten Sie gern noch ein Glas Wasser?«

»Bitte«, sagte ich, und der Millionär füllte mein Glas.

In meinem Geist tobte es. Ich hatte Antworten haben wollen und hatte sie bekommen, aber jede hatte einen Schwarm neuer Fragen aufgeworfen. Offensichtlich war er bereit, sie zu beantworten, aber einzig aus dem Grund, daß er sie in seiner Vision von diesem Tag schon beantwortet hatte. Während ich mit Carvajal redete, rutschte ich zwischen die grammatischen Zeiten der Vergangenheit und Zukunft, verirrt in einem grammatischen Labyrinth durcheinandergeschüttelter Zeiten und Sequenzen. Und er war vollkommen ruhig, saß fast reglos, seine Stimme war dünn, manchmal fast unhörbar, und sein Gesicht war ausdruckslos — nur eigenartig zerstört sah er aus. Zerstört, ja. Er hätte ein Idiot sein können oder vielleicht ein Roboter: der ein starres, vorherbestimmtes, vollprogrammiertes Leben lebte, niemals nach den Gründen für seine Handlungen fragte, einfach nur von Tag zu Tag weitermachte, eine Marionette, die an den Schnüren ihrer eigenen unvermeidbaren Zukunft hing, in einer deterministischen existentiellen Passivität dahintrieb, die ich fremd und bestürzend fand. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn einen Moment lang bemitleidete. Dann fragte ich mich, ob mein Mitgefühl nicht vielleicht fehl am Platz war. Ich spürte die Versuchung jener existentiellen Passivität, eine machtvolle Lockung. Wie tröstlich es sein könnte, dachte ich, in einer Welt zu leben, in der es keine Ungewißheit gibt!