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Plötzlich sagte er: »Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen. Ich bin lange Gespräche nicht gewöhnt und fürchte, dieses hat mich etwas erschöpft.«

»Das tut mir leid. Ich hatte nicht beabsichtigt, so lange zu Bleiben.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Alles was heute geschehen ist, kam so, wie ich es gesehen habe. Also ist alles in Ordnung.«

»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich entschlossen haben, so offen über sich selbst zu sprechen«, sagte ich.

»Entschlossen?« sagte er lachend. »Schon wieder entschlossen?«

»Das Wort kommt in Ihrem Umgangswortschatz gar nicht mehr vor?«

»Nein. Und ich weiß, daß es auch bald aus Ihrem ausgemerzt sein wird.« Mit einer Geste des Entlassens ging er zur Tür. »Wir werden uns bald wieder unterhalten.«

»Darüber würde ich mich freuen.«

»Ich bedaure, daß ich Ihnen nicht so helfen konnte, wie Sie sich das gewünscht haben. Ihre Frage nach der Laufbahn Paul Quinns — es tut mir leid. Die Antwort liegt jenseits meiner Grenzen, und ich kann Ihnen keine Informationen geben. Ich nehme nur das wahr, was ich wahrnehmen werde, verstehen Sie? Ich nehme nur meine eigenen zukünftigen Wahrnehmungen wahr, so als sähe ich die Zukunft durch ein Periskop, und mein Periskop zeigte mir nichts von den Wahlen des nächsten Jahres. Viele von den Ereignissen, die der Wahl vorausgehen, ja. Das Ergebnis selbst, nein. Es tut mir leid.«

Für einen Augenblick ergriff er meine Hand. Ich fühlte einen Strom zwischen uns fließen, eine klar zu erkennende, fast greifbare Verbindung. Ich spürte eine große Anstrengung in ihm, nicht bloß die Anstrengung des Gesprächs, sondern eine tiefere, einen Kampf, jenen Kontakt zwischen uns aufrechtzuerhalten und zu erweitern, mich auf einer verborgenen Daseinsebene zu erreichen. Das Gefühl beunruhigte mich. Es dauerte nur einen Augenblick; dann riß es, und ich fiel mit einem wahrnehmbaren Schnitt des Getrenntwerdens ins Alleinsein zurück, und er lächelte, machte eine höfliche kleine Verbeugung, wünschte mir einen sicheren Heimweg, ließ mich ins dunkle, dumpfige Treppenhaus hinaus.

Erst als ich ein paar Minuten später in meinen Wagen stieg, fügten sich alle Stücke zusammen, erst da begriff ich, was Carvajal mir gesagt hatte, als wir an der Tür standen. Erst da verstand ich die Natur jener endgültigen Grenze, die um seine Vision lag, die ihn zu der passiven Marionette gemacht hatte, die er war, und all seinen Handlungen ihre Bedeutung geraubt hatte. Carvajal hatte den Augenblick seines eigenen Todes gesehen. Deswegen konnte er mir nicht sagen, wer der nächste Präsident sein würde, ja, aber die Auswirkungen jenes Wissens lagen noch tiefer. Es erklärte, warum er in dieser eigenartig fraglosen, gleichgültigen Art durchs Leben trieb. Jahrzehntelang mußte Carvajal mit dem Wissen gelebt haben, wie, wo und wann er sterben würde, einem Wissen, das absolut und unbezweifelbar war und das seinen Willen in einer Weise gelähmt hatte, die für gewöhnliche Menschen schwer zu begreifen war. Das war meine intuitive Deutung seines Zustands; und ich vertraue meinen Intuitionen.

Der Zeitpunkt seines Endes war weniger als siebzehn Monate entfernt; und ziellos trieb er darauf zu, hatte es akzeptiert, spielte seine Rolle laut Drehbuch, es kümmerte ihn nicht, es kümmerte ihn gar nicht.

17

In meinem Kopf wirbelte es, als ich nach Hause fuhr, und es wirbelte noch tagelang. Ich fühlte mich gestoned, betrunken, berauscht von einem Gefühl unendlicher Möglichkeiten, einer grenzenlosen Öffnung. Es war, als erschlösse sich mir nun bald eine unglaubliche Energiequelle, auf die ich mich, ohne es zu wissen, mein ganzes Leben lang zubewegt hatte.

Diese Quelle von Energie war Carvajals visionäre Kraft.

Als ich zu ihm gegangen war, hatte ich vermutet, wer er war, und er hatte es bestätigt; aber er hatte mehr als das getan. Er hatte, kaum, daß wir das Spielen und Testen hinter uns gelassen hatten, mir seine Geschichte so bereitwillig erzählt, daß es fast so aussah, als wolle er mich in irgendeine Beziehung hineinlocken, die auf jener Gabe der Voraussicht beruhte, die wir in so ungleicher Weise teilten. Dies war ja immerhin ein Mann, der jahrzehntelang heimlich und verborgen gelebt hatte, ein Einsiedler, der in aller Stille seine Millionen aufhäufte, ohne Frau, ohne Freunde; und er hatte sich zu Lombrosos Büro bemüht, um mich zu finden, er hatte mich mit seinen drei rätselhaften, irritierenden Hinweisen geködert, er hatte mich umgarnt und in sein Loch gezogen, er hatte bereitwillig meine Fragen beantwortet, er hatte den Wunsch ausgedrückt, mich wiederzusehen.

Was wollte Carvajal von mir? Welche Rolle hatte er für mich im Sinn? Dankbares Ein-Mann-Publikum? Partner? Schüler?

Erbe?

All diese Möglichkeiten drängten sich mir auf: Ein wilder Sturm von Mutmaßungen machte mich schwindlig. Aber auch die Möglichkeit bestand, daß ich mich vollkommen täuschte, daß Carvajal überhaupt keine Rolle für mich im Sinne hatte. Rollen werden von Stückeschreibern geschaffen; und Carvajal war ein Schauspieler, kein Autor. Und vielleicht war ich für Carvajal nur eine Figur, die auf der Bühne aufgetaucht war, um ihn in einen Dialog zu verwickeln, eine Figur, die aus Gründen aufgetaucht war, die er nicht kannte und die ihn nicht interessierten, aus Gründen, die, wenn überhaupt, nur dem unsichtbaren und vielleicht nicht existierenden Autor des großen Weltdramas bekannt waren.

Das war ein Aspekt an Carvajal, der mich zutiefst verstimmte, so wie Betrunkene mich immer verstimmt haben. Der Trinker — oder der Dope-Raucher oder der Heroinschnupfer — ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Person, die von Sinnen ist. Was bedeutet, daß man seine Worte oder Handlungen nicht ernst nehmen kann. Ob er Ihnen sagt, daß er Sie liebt oder haßt, ob er Ihnen sagt, wie sehr er Ihre Arbeit oder Integrität bewundert oder Ihre Überzeugungen teilt — Sie wissen nie, wie ehrlich er es meint, denn vielleicht haben ihm der Alkohol oder das Dope die Worte eingegeben. Wenn er ein Geschäft vorschlägt, wissen Sie nicht, wie viel ihm davon noch einfällt, wenn er wieder nüchtern ist. Solange er unter Einfluß ist, steht Ihre Beziehung zu ihm auf hohlen und unverläßlichen Füßen. Ich bin ein rationaler und ordnungsliebender Mensch, und wenn ich mit jemandem zu tun habe, möchte ich das Gefühl haben, daß die Verständigung wirklich ist. Aber die findet nicht statt, wenn der andere einfach alles sagt, was ihm in seinen chemisch veränderten Kopf kommt.

Bei Carvajal hatte ich dasselbe Gefühl von unsicherem Boden. Man konnte sich nicht darauf verlassen, daß seine Worte koscher oder sein Benehmen sinnvoll waren. Seine Handlungen entsprangen nicht dem, was ich für rationale Motivation halte, sei es nun Eigennutz oder dem Interesse am Wohlergehen der Allgemeinheit; alles, selbst sein eigenes Überleben, schien ihm belanglos zu sein. So entzogen sich seine Handlungen einer stochastischen Betrachtung und dem gesunden Menschenverstand selbst: Er war unvorhersagbar, weil er keinen erkennbaren Mustern folgte, nur dem Drehbuch, dem heiligen und unabänderlichen Drehbuch, und das Drehbuch wurde ihm in Anflügen nicht logischer, nicht chronologisch-folgerichtiger Einsicht enthüllt. »Wenn ich sehe, daß ich etwas tue, dann tue ich es«, hatte er gesagt. Niemals nach dem Warum fragend. In Ordnung. Er sieht, daß er all sein Geld den Armen gibt, also gibt er all sein Geld den Armen. Er sieht, daß er die George-Washington-Brücke auf Stelzen überquert, also stolziert er drauflos. Er sieht, daß er H2SO4 in das Wasserglas seines Gastes schüttet, also serviert er die gute alte Säure, ohne zu zögern. Er beantwortet Fragen mit den vorherbestimmten Antworten, ob das Vorherbestimmte nun einen Sinn ergibt oder nicht. Und so fort. Da er sich dem Diktat der enthüllten Zukunft vollständig unterworfen hat, braucht er Motive oder Konsequenzen nicht mehr zu prüfen. In der Tat: schlimmer als ein Betrunkener. Der Säufer besitzt immerhin noch einen Fetzen von Rationalität, die, wie verschwommen auch immer, auf dem Grunde seines Bewußtseins wirkt.