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»Soll ich mein Leben davon bestimmen lassen, daß Quinn sich der Spießbürgermoral von Kleinstadtwählern anpassen muß?« fragte sie schrill, ihre dunklen Augen standen in Flammen, und unter der dunklen Tönung ihrer Wangen glühte Farbe.

»Willst du eine Hure sein, Sundara?«

»Prostituierte ist die Bezeichnung, die die Gewerkschaft vorzieht.«

»Prostituierte ist kein bißchen schöner als Hure. Bist du mit den Arrangements, die wir getroffen haben, nicht mehr zufrieden? Warum möchtest du dich verkaufen?«

»Weil ich ein freier Mensch sein möchte«, sagte sie eisig, »frei von allen begrenzenden Ego-Bindungen.«

»Und das erreichst du durch Prostitution?«

»Prostituierte lernen, ihr Ego abzubauen. Sie existieren nur, um den Wünschen anderer zu dienen. Eine oder zwei Wochen in einem städtischen Bordell werden mir beibringen, die Wünsche meines Ego den Bedürfnissen derer unterzuordnen, die zu mir kommen.«

»Du könntest Krankenschwester werden. Oder Masseuse. Du könntest…«

»Ich habe gewählt, was ich gewählt habe.«

»Und das willst du machen? Du willst die nächsten Wochen in einem städtischen Bordell verbringen?«

»Wahrscheinlich.«

»Hat Catalina Yarber das vorgeschlagen?«

»Das habe ich mir selbst ausgedacht«, sagte Sundara feierlich. Ihre Augen blitzten Feuer. Wir waren am Rande des schlimmsten Streits unseres gemeinsamen Lebens, eines frontalen Ich-verbiete-das/du-hast-mir-nichts-zu-befehlen-Zusammenstoßes. Ich zitterte. Ich sah Sundara, schlank und elegant, Sundara, die alle Männer und viele Frauen begehrten, wie sie in einer jener schauerlichen Zellen auf den Zeitnehmer drückte, Sundara, wie sie ihre Schenkel mit antiseptischen Mitteln spülte, Sundara auf schmaler Pritsche, die Knie zu den Brüsten hochgezogen, wie sich irgendein stoppelbärtiger, nach Schweiß stinkender Kerl grunzend in sie hineinwühlte und sich sabbernd erleichterte, während eine endlose Schlange geiler Kunden mit Eintrittskarten in der Hand und verstohlen ihren Ständer befummelnd vor der Tür wartete. Nein. Ich konnte es nicht schlucken. Vierer-Gruppe, Sechser-Gruppe, Zehner-Gruppe, jede Art von Gruppensex, die sie wollte, in Ordnung, aber nicht n-Gruppe, nicht Unendlich-Gruppe, sie sollte ihren kostbaren, zarten Körper nicht jedem lüsternen Drecksack in New York City anbieten, der gerade einmal das Eintrittsgeld zusammenkratzte, um sich auszuschleimen. Mich beutelte diese Vorstellung. Einen Augenblick lang war ich wirklich versucht, mich in altmodischem Ehemännerzorn zu erheben und ihr zu sagen, sie solle den ganzen Unsinn sein lassen, sonst… Aber das war natürlich unmöglich. So sagte ich nichts, während sich Klüfte zwischen uns öffneten. Wir waren auf getrennten Inseln in einem stürmischen Meer, gewaltige Strömungen trieben uns auseinander, und ich war nicht einmal fähig, über die sich weitende Meeresstraße hinüberzurufen, nicht einmal fähig, mit schwachen Händen nach ihr zu greifen. Wo war es hin, das Einssein, das wir einige Jahre lang geteilt hatten? Warum wurde der Abstand größer?

»Dann geh doch in deinen Puff«, sagte ich mürrisch und ging in blinder, wilder, unstochastischer Raserei von Wut und Angst aus der Wohnung.

Statt sich jedoch in einem Bordell einzumieten, nahm Sundara den Hubschrauber zum JFK-Flughafen und bestieg eine Rakete nach Indien. In Benares badete sie in der trüben Brühe des Ganges, verbrachte eine Stunde mit der erfolglosen Suche nach dem alten Wohnviertel ihrer Familie in Bombay, nahm in Green’s Hotel ein Curry-Dinner zu sich und setzte sich in die nächste Rakete nach Hause. Ihre Pilgerfahrt dauerte insgesamt vierzig Stunden und kostete sie genau vierzig Dollar pro Stunde; diese Symmetrie hob auch nicht gerade meine Stimmung. Ich war so klug, darüber keine Auseinandersetzung zu beginnen. Machen konnte ich sowieso nichts; Sundara war ein freier Mensch und wurde jeden Tag freier, und es war ihr Privileg, ihr eigenes Geld nach ihrem Gutdünken auszugeben, selbst für verrückte Blitzausflüge nach Indien. In den Tagen nach ihrer Rückkehr hütete ich mich, sie zu fragen, ob sie ihre neue Prostituiertenlizenz tatsächlich benützen wolle. Vielleicht hatte sie es schon getan. Ich wollte es lieber nicht wissen.

19

Eine Woche nach meinem Besuch bei Carvajal rief er an und fragte mich, ob ich mich am nächsten Tag zum Mittagessen mit ihm treffen wolle. So traf ich ihn denn, auf seinen Vorschlag, im Club der Handelsherren und Reeder im Finanzdistrikt.

Der Vorschlag überraschte mich. Der Club der Handelsherren und Reeder ist eine jener ehrwürdigen Wasserstellen der Wall Street, die exklusiv von Spitzenmaklern und Bankiers bevölkert werden und zu denen nur Mitglieder Zutritt haben. Und wenn ich sage, exklusiv, dann meine ich damit, daß selbst Bob Lombroso, ein Amerikaner der zehnten Generation und einer der Mächtigen der Street, stillschweigend wegen seines Judentums von der Mitgliedschaft ausgeschlossen ist und es vorzieht, deswegen keinen Aufstand zu machen. Wie bei allen derartigen Institutionen genügt Reichtum allein als Eintrittskarte nicht; man muß clubfähig sein, ein angenehmer und wohlanständiger Mann aus der richtigen Familie, der auf die richtige Universität gegangen und in der richtigen Firma arbeitet. Soweit ich sehen konnte, sprach in dieser Richtung nichts für Carvajal. Seine richesse war nouveau, und er war von Natur aus ein Außenseiter, dem der erforderliche Privatschulen-Hintergrund und Geschäftsbeziehungen auf höchster Ebene fehlten. Wie hatte er sich eine Mitgliedschaft organisiert?

»Ich habe sie geerbt«, sagte er lässig, als wir uns sechzig Stockwerke über dem Straßenlärm in gemütlichen, elastischen, gutgepolsterten Sesseln neben einem Fenster niederließen. »Einer meiner Vorväter war Gründungsmitglied, im Jahre 1823. Die Charta bestimmt, daß die Mitgliedschaften der elf Gründer automatisch jeweils auf den ältesten Sohn des ältesten Sohns übergehen: Welt ohne Ende. Wegen dieser Klausel konnten einige sehr zweifelhafte Typen die Heiligkeit der Organisation beflecken.« Ein plötzliches und überraschend boshaftes Grinsen blitzte in seinem Gesicht auf. »Ich komme ungefähr alle fünf Jahre einmal her. Wie Sie sehen, trage ich meinen besten Anzug.«

So war es — ein plissierter gold- und grünfarbener Fischgrat-Anzug, der seine beste Zeit vielleicht vor zehn Jahren gesehen hatte, der aber immer noch weit mehr Schmiß und Glanz hatte als der Rest seiner trüben und muffigen Garderobe. In der Tat schien mit Carvajal eine beträchtliche Verwandlung vorgegangen zu sein: Er wirkte munterer, lebhafter, fast verspielt, deutlich jünger als der aschgraue Mann, den ich kannte. Ich sagte: »Ich wußte nichts von Ihren Vorfahren.«

»Es gab in der Neuen Welt schon Carvajals, lange bevor die Mayflower in die Neue Welt aufbrach. Wir waren eine prominente Familie im Florida des frühen achtzehnten Jahrhunderts. Als die Engländer 1763 Florida annektierten, zog ein Zweig der Familie nach New York, und ich glaube, es gab eine Zeit, wo uns der halbe Hafen und der größte Teil der Upper West Side gehörte. Aber unser Vermögen ging in der Panik des Jahres 1837 unter, und ich bin seit hundertfünfzig Jahren der erste in der Familie, der sich über vornehmtuende Armut erhoben hat. Aber selbst in schlimmsten Zeiten haben wir unsere Clubmitgliedschaft behalten.« Er wies auf die herrlichen holzgetäfelten Wände, die glitzernden chromgefaßten Fenster, das unaufdringliche versenkte Licht. Um uns herum saßen Titanen aus Industrie und Finanz, Männer, die zwischen zwei Drinks Reiche aufbauten und abstießen. Carvajal sagte: »Ich werde nie vergessen, wie mein Vater mich zum ersten Mal hierher auf einen Cocktail mitnahm. Ich war ungefähr achtzehn, das muß also, sagen wir, 1957 gewesen sein. Der Club war noch nicht in dieses Gebäude gezogen — er war noch drüben in der Broad Street, in einem spinnwebverhangenen Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert —, und mein Vater und ich, wir kamen in unseren Zwanzig-Dollar-Anzügen und unseren alten Wollkrawatten herein, und jeder sah für mich wie ein Senator aus, selbst die Kellner, aber keiner grinste höhnisch über uns, niemand behandelte uns herablassend. Ich hatte meinen ersten Martini und mein erstes Filet Mignon, und es war wie ein Ausflug nach Walhalla, wissen Sie, oder nach Versailles, nach Xanadu. Ein Besuch in einer fremden, blendenden Welt, in der alle reich, mächtig und erhaben waren. Und während ich meinem Vater gegenüber an dem riesigen alten Eichentisch saß, überkam mich eine Vision, ich fing an zu sehen, ich sah mich selbst als alten Mann, als den Mann, der ich heute bin, ausgetrocknet, mit einer Glatze, von ein paar Büscheln grauen Haars gesäumt, das ältliche Selbst, das ich schon kennen gelernt hatte und leicht wiedererkannte, und dieses ältere Ich saß in einem Raum, der wahrhaft luxuriös war, einem Raum eleganter Formen, mit herrlich fantasievollen Möbeln, in der Tat genau dem Raum, in dem wir jetzt sind, und ich teilte einen Tisch mit einem viel jüngeren Mann, einem großen, kräftigen dunkelhaarigen Mann, der sich nach vorne beugte, mich in angespannter und ratloser Manier anstarrte und jedem einzelnen meiner Worte lauschte, als wolle er sie auswendig lernen. Dann verschwand die Vision, und ich war wieder bei meinem Vater, und er fragte mich, ob mit mir alles in Ordnung sei; ich tat so, als sei es die plötzliche Wirkung des Martini gewesen, die meine Augen glasig und mein Gesicht schlaff gemacht hatten, denn nicht einmal damals war ich ein großer Trinker. Und ich fragte mich, ob das, was ich gesehen hatte, sozusagen ein nachschwingendes Echobild von meinem Vater und mir im Club war, das heißt, ob ich mein älteres Selbst gesehen hatte, das meinen eigenen Sohn in einen Handelsclub der fernen Zukunft mitgenommen hatte. Einige Jahre hindurch rätselte ich, wer meine Frau und wie mein Sohn sein würde, und dann begriff ich, daß es keine Frau und keinen Sohn geben würde. Die Jahre vergingen, und hier sind wir heute, und da sitzen Sie mir gegenüber, beugen sich nach vorne, starren mich in angespannter und ratloser Manier…«