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»1966.«

»1966. In Ordnung. Hier sind Sie, 1966. Und das ist das gegenwärtige Jahr, 1999. Sagen wir, Sie werden neunzig Jahre alt werden. Dann ist das hier das Jahr Ihres Todes, 2056. Soviel zur Linie X-Y. Nun diese andere Linie, X’-Y’ — das ist ebenfalls der Verlauf der Geschichte in diesem Universum, genau derselbe Geschichtsverlauf, den die andere Linie darstellt. Nur läuft sie in umgekehrter Richtung.«

»Was?«

»Warum nicht? Nehmen Sie an, es gäbe viele Universen, jedes sei unabhängig von allen anderen, jedes habe seinen einzigartigen Bestand an Sonnen und Planeten, auf denen Ereignisse stattfinden, die nur in jenem Universum vorkommen. Eine Unendlichkeit von Universen, Lew. Gibt es irgendeinen zwingenden logischen Grund, warum die Zeit in all diesen Universen in derselben Richtung fließen müßte?«

»Entropie«, murmelte ich. »Die Gesetze der Thermodynamik. Zeitpfeil. Ursache und Wirkung.«

»Ich habe nichts gegen diese Gedanken. Soweit ich weiß, sind sie alle innerhalb eines geschlossenen Systems gültig«, sagte Carvajal. »Aber ein geschlossenes System hat in bezug auf ein anderes keine entropischen Verantwortungen, oder? Die Zeit kann im einen Universum von A bis Z ticken und in einem anderen von Z bis A, aber nur ein Beobachter außerhalb beider Universen wird das erkennen können, solange innerhalb jedes Universums der tägliche Fluß von der Ursache zur Wirkung läuft und nicht umgekehrt. Würden Sie die Logik dieses Arguments anerkennen?«

Für einen Augenblick schloß ich die Augen. »In Ordnung. Wir haben eine Unendlichkeit von Universen, die alle voneinander getrennt sind, und die Richtung des Zeitflusses in einem x-beliebigen mag in bezug auf die anderen auf den Kopf gestellt erscheinen. Und dann?«

»In einer Unendlichkeit existieren alle möglichen Fälle, ja?«

»Ja. Laut Definition.«

»Dann werden Sie ebenfalls zustimmen«, sagte Carvajal, »daß in jener Unendlichkeit unverbundener Universen eines sein könnte, das unserem in allen Einzelheiten gleicht, mit Ausnahme der Richtung seines Zeitflusses in bezug auf unseren Zeitfluß hier.«

»Ich glaube, ich begreife nicht…«

»Schauen Sie her«, sagte er ungeduldig und deutete auf die Gerade, die von X’ nach Y’ über das Tischtuch lief. »Hier ist ein anderes Universum, Seite an Seite mit unserem, haargenau dasselbe. Aber in diesem ist die Entstehung bei Y’ statt bei X, und der Hitzetod des Universums ist bei X’ statt bei Y. Hier unten« — er zeichnete nahe meiner Tischkante einen Querstrich durch die zweite Linie — »ist die Epoche des Neandertalers. Hier die Kreuzigung. Hier 1939, 1966, 1999, 2056. Dieselben Ereignisse, dieselben Schlüsseldaten, aber von hinten nach vorne laufend. Das heißt, ihre Reihenfolge erscheint umgekehrt, wenn Sie in diesem Universum leben und in der Lage sind, einen Blick in das andere zu werfen. Für die da drüben läuft natürlich alles in der richtigen Richtung.« Carvajal verlängerte die Querstriche in den Punkten 1939 und 1999 auf der X-Y-Linie, bis sie die X’-Y’-Linie schnitten, und verfuhr genauso mit den 1999- und 1939-Querstrichen der zweiten Linie. Dann klammerte er beide Querstriche zusammen, indem er ihre Enden verband, wodurch folgendes Bild entstand:

Ein vorübereilender Kellner sah, was Carvajal mit dem Tischtuch anstellte, hüstelte leise, ging aber weiter, sagte nichts, verzog keine Miene. Carvajal schien es nicht zu bemerken. Er fuhr fort: »Nehmen wir nun an, daß im X-Y-Universum ein Mensch geboren wird, der — Gott weiß, warum — in der Lage ist, gelegentlich in das X’-Y’-Universum hineinzusehen. Ich. Hier bin ich auf meiner Wanderung von 1939 nach 1999 in X-Y und werfe ab und zu einen Blick nach X’-Y’ hinüber und beobachte die Ereignisse ihrer Jahre 1939 bis 1999, die dieselben sind wie bei uns, nur daß sie in umgekehrter Reihenfolge abfließen, so daß zum Zeitpunkt meiner Geburt hier mein ganzes X-Y-Leben in X’-Y’ schon passiert, schon Geschichte ist. Wenn sich mein Bewußtsein an das Bewußtsein meines anderen Selbst dort drüben anschließt, erwische ich es dabei, wie es sich seiner Vergangenheit erinnert, die meine Zukunft hier ist.«

»Sehr fein.«

»Ja. Der normale Mensch, der auf ein einziges Universum beschränkt ist, kann nach Belieben in seinem Gedächtnis herumschweifen, er kann sich frei in seiner eigenen Vergangenheit ergehen. Aber ich habe Zutritt zum Gedächtnis eines Menschen, der in der entgegengesetzten Richtung lebt, was mir erlaubt, mich sowohl an die Vergangenheit als auch an die Zukunft zu ›erinnern‹. Das heißt, falls die Theorie der zwei Zeitlinien korrekt ist.«

»Und ist sie das?«

»Wie soll ich das wissen?« fragte Carvajal. »Es ist nur eine plausible Arbeitshypothese, um zu erklären, was bei meinem Sehen passiert. Aber wie soll ich sie überprüfen?«

Nach einer Weile fragte ich: »Die Dinge, die Sie sehen — erscheinen die Ihnen in umgekehrter chronologischer Ordnung? Die Zukunft, die sich in einer fortlaufenden Bildrolle enthüllt, so etwas Ähnliches?«

»Nein. Nie. Genauso wenig wie Ihre Erinnerungen eine einzige fortlaufende Bildrolle bilden. Ich bekomme unregelmäßige Einblicke. Bruchstücke von Szenen, manchmal längere Passagen, die anscheinend eine Zeitdauer von zehn oder fünfzehn Minuten, oder mehr, umspannen, aber immer in willkürlichem Durcheinander, nie in linearer Folge. Ich habe gelernt, das größere Muster selbst zu finden, mich an Passagen zu erinnern und sie in einer wahrscheinlichen Ordnung aneinander zu hängen. Es war so, wie wenn man lernt, babylonische Gedichte zu lesen, indem man Keilschrift-Inschriften auf zerbrochenen, durcheinandergeratenen Steinen entziffert. Allmählich entwickelte ich ein System von Anhaltspunkten, das mich bei meinen Rekonstruktionen der Zukunft leitete: Das ist mein Gesicht mit Vierzig, mit Fünfzig, mit Sechzig, das sind die Kleider, die ich von 1965 bis 1973 getragen habe, das ist die Zeit, in der ich einen Schnurrbart hatte, in der mein Haar dunkel war, oh, ein ganzer Haufen kleiner Referenzen, Assoziationen und Fußnoten, die mir mit der Zeit so vertraut wurden, daß ich jede Szene, die ich sah, selbst die kürzeste, auf Wochen oder sogar auf Tage genau datieren konnte. Zuerst war das nicht leicht, aber inzwischen ist mir das zweite Natur.«

»Sehen Sie jetzt, in diesem Augenblick?«

»Nein«, sagte er. »Es bedarf einer Anstrengung, den Zustand herbeizuführen. Er ähnelt weitgehend einer Trance.« Ein Hauch von Winter flog über sein Gesicht. »In seiner machtvollsten Form handelt es sich um eine Art Doppelvision, eine Welt liegt über der anderen, so daß ich nicht ganz sicher sagen kann, in welcher Welt ich lebe und welche Welt ich sehe. Selbst nach all diesen Jahren komme ich mit diesem Verlust der Orientierung, dieser Verwirrung, nicht ganz zurecht.« Ein Zittern schien durch ihn zu fahren. »Gewöhnlich ist es nicht so intensiv. Wofür ich dankbar bin.«

»Könnten Sie mir zeigen, wie es ist?«

»Hier? Jetzt?«

»Bitte.«

Er musterte mich lange. Er leckte seine Lippen, preßte sie zusammen, warf die Stirn in Falten, überlegte. Dann änderte sich sein Ausdruck abrupt, seine Augen wurden glasig und starr, als sähe er einen Film von der letzten Reihe eines riesigen Kinos aus oder als fiele er in tiefe Meditation. Seine Pupillen weiteten sich, und die Öffnung blieb, unabhängig von den Lichtschwankungen, die an uns vorbeigehende Leute auslösten, konstant. Sein Gesicht sprach deutlich von einer großen Anstrengung. Sein Atem ging langsam, rau und regelmäßig. Er saß vollkommen reglos; er schien ganz und gar abwesend. Eine Minute vielleicht verstrich; mir war sie unerträglich lang. Dann zerfiel seine Starre wie ein fallender Eiszapfen. Er wurde locker. Schultern sackten nach vorne; mit einem raschen Stoß trat Farbe in seine Wangen; seine Augen tränten und wurden trüb; mit bebender Hand griff er nach seinem Wasserglas und schluckte dessen Inhalt gierig hinunter wie ein Verdurstender. Er sagte nichts. Ich wagte nicht zu sprechen.