Solche Formung und Steuerung war laut Carvajal unmöglich. Unmöglich für ihn, vielleicht; aber würden seine Grenzen auch für mich gelten? Selbst wenn die Zukunft feststeht und nicht zu ändern ist, so könnte man doch mit dem Wissen des Künftigen immer noch Schläge mildern, Energien eine neue Richtung geben, aus dem Untergang alter Muster neue schaffen. Ich würde es versuchen. Lehre mich sehen, Carvajal, und laß es mich versuchen!
23
Sundara verschwand Ende Juni, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, und war fünf Tage lang weg. Ich benachrichtigte die Polizei nicht. Als sie zurückkehrte und keinerlei Erklärung gab, fragte ich sie nicht, wo sie gewesen war. In Bombay vielleicht wieder, in Tierra del Fuego, Capetown, Bangkok, mir war es einerlei. Ich wurde langsam ein guter Transit-Ehemann. Vielleicht hatte sie die fünf Tage flach ausgestreckt auf dem Altar eines örtlichen Transit-Hauses zugebracht, wenn sie Altäre haben, oder vielleicht hatte sie ein Bordell in der Bronx beehrt. Wußte es nicht, wollte mich nicht dafür interessieren. Wir hatten uns schlimm auseinandergelebt, wir liefen Seite an Seite über dünnes Eis und blickten nicht ein einziges Mal zum anderen, wechselten kein einziges Wort, glitten nur stumm auf ein unbekanntes und gefährliches Ziel zu. Transit-Prozesse beanspruchten ihre Energien Tag und Nacht, Nacht und Tag. Was bringt es dir? wollte ich sie fragen. Was bedeutetes dir? Aber ich fragte nicht. An einem klebrigen Abend im Juli kam sie spät von Gott weiß was für Aktivitäten in der Stadt nach Hause — in einen türkisfarbenen Sari gekleidet, der an ihrer feuchten Haut so aufreizend haftete, daß man sie im puritanischen Neu-Delhi wegen öffentlicher Unzucht zu zehn Jahren verdonnert hätte — und kam zu mir, legte ihre Arme auf meine Schultern, seufzte und lehnte sich eng an mich, so daß ich die Wärme ihres Körpers fühlte, die mich zittern machte; und ihre Augen suchten meine, und in ihren dunkelglänzenden Augen war Schmerz und Verlorenheit und Bedauern, ein furchtbarer Blick voll Kummer. Und als ob ich ihre Gedanken lesen könnte, hörte ich sie deutlich sagen: »Sag das Wort, Lew, sag nur das Wort, und ich lasse sie laufen, und alles wird wieder, wie es war.« Ich weiß, das war es, was ihre Augen mir sagten. Aber das Wort sagte ich nicht. Warum blieb ich stumm? Weil ich argwöhnte, daß Sundara bloß ein neues bedeutungsloses Transit-Spiel an mir ausprobierte, ein Spiel á la Hast-du-gedacht-ich-mein-es-ernst? Oder weil ich irgendwo in meinem Innern nicht wollte, daß sie von der Bahn, die sie gewählt hatte, abwich?
24
Quinn rief mich zu sich. Es war am Tag vor der Zeremonie im neuen Gebäude von Kuwait.
Er stand in der Mitte seines Büros, als ich eintrat. Der Raum war eintönig, von trostloser Funktionalität, kein Vergleich mit Lombrosos ehrgebietendem Heiligtum — dunkles, klobiges Mobiliar, Porträts früherer Bürgermeister —, aber heute schimmerte darin eine unheimliche Helligkeit. Sonnenlicht, das durch das Fenster hinter Quinn hereinströmte, umhüllte ihn mit einer blendenden, goldenen Aura, und er schien Stärke, Autorität und Zielgewißheit auszustrahlen, eine Lichtflut von sich zu geben, die intensiver war als die, die er empfing. Ein Jahr und ein halbes als Bürgermeister New Yorks hatten Spuren an ihm hinterlassen: Das Netz feiner Fältchen um seine Augen herum war tiefer als am Tag seiner Amtseinführung, das blonde Haar hatte etwas von seinem Glanz verloren, seine stämmigen Schultern schienen sich ein wenig zu krümmen, als drücke ihn ein unmögliches Gewicht. In diesem übellaunigen, feuchten Sommer hatte er oft müde und gereizt gewirkt, und es hatte Zeiten gegeben, wo er viel älter als neununddreißig schien. Aber alles das war jetzt von ihm abgefallen. Der alte Quinnsche Elan war zurückgekehrt. Seine Gegenwart füllte den Raum.
Er sagte: »Erinnerst du dich, daß du mir vor etwa einem Monat gesagt hast, neue Muster entwickelten sich, und du könntest mir bald eine Vorhersage für das kommende Jahr machen?«
»Sicher: Aber ich…«
»Warte. Neue Faktoren sind ins Spiel gekommen, aber du kennst noch nicht alle. Ich möchte sie dir darlegen, damit du sie in deine Synthese einbeziehen kannst, Lew.«
»Was für Faktoren?«
»Meine Pläne für die Präsidentschaftskandidatur.«
Nach einer langen, unbeholfenen Pause brachte ich schließlich heraus: »Du willst nächstes Jahr kandidieren?«
»Nächstes Jahr sind meine Chancen keinen Pfifferling wert«, erwiderte Quinn gleichmütig. »Meinst du nicht auch?«
»Ja, aber…«
»Kein aber. Die Kandidaten im Jahr 2000 sind Kane und Socorro. Ich brauche nicht dein Geschick für Prognosen, um das zu wissen. Sie haben jetzt schon genug Delegierte in der Tasche, um die Nominierung im ersten Wahlgang zu kriegen. Dann treten sie nächstes Jahr im November gegen Mortonson an und beziehen Prügel. Ich schätze, Mortonson wird den größten Erdrutsch seit Nixon ‘72 einheimsen, egal, wer gegen ihn kandidiert.«
»Das glaube ich auch.«
Quinn sagte: »Deshalb rede ich von Null-Vier. Mortonson kann sich nicht noch einmal zur Wahl stellen, und die Republikaner haben niemanden von seiner Statur. Wer auch immer sich die Neu-Demokraten-Nominierung in dem Jahr schnappt, wird Präsident, richtig?«
»Richtig, Paul.«
»Kane wird keine zweite Chance erhalten. Erdrutschverlierer nie. Wen gibt es noch? Keats? Er wird dann über sechzig sein. Pownell? Keine Ausdauer. Der ist bis dahin vergessen. Randolph? Der gibt höchstens einen Vize ab, mehr ist in dem nicht drin.«
»Socorro wird noch mitreden«, sagte ich.
»Socorro, ja. Wenn er nächstes Jahr im Wahlkampf seine Karten richtig spielt, wird er am Ende gut dastehen, egal, wie vernichtend die beiden geschlagen werden. So wie Muskie bei seiner Niederlage ‘68 und Shriver ‘72. Socorro ist mir in diesem Sommer sehr viel durch den Kopf gegangen, Lew. Ich habe beobachtet, wie er seit Leydeckers Tod wie eine Rakete steigt. Deshalb habe ich auch beschlossen, nicht mehr länger zimperlich zu sein und jetzt schon auf die Nominierung loszugehen. Ich muß Socorro ausbooten. Denn wenn er Null-Vier die Nominierung kriegt, wird er gewinnen, und wenn er gewinnt, dann hat er zwei Amtszeiten vor sich, und das würde mich bis 2012 auf ein Nebengleis stellen.« Er verabreichte mir eine Dosis des klassischen Quinnschen Augenkontakts, durchbohrte mich, bis ich mich winden wollte. »Im Jahre 2012 bin ich einundfünfzig Jahre alt, Lew. So lange möchte ich nicht warten müssen. Ein potentieller Kandidat kann ganz schön vertrocknen, wenn er zwölf Jahre am Weinstock hängt, um auf seine Stunde zu warten. Was meinst du?«
»Ich meine, deine Projektion ist durch und durch stichhaltig«, sagte ich.
Quinn nickte. »Okay. Hier ist der Zeitplan, den Haig und ich in den letzten Tagen ausgearbeitet haben. Den Rest von ‘99 und die erste Hälfte des nächsten Jahres verbringen wir einfach nur damit, das Fundament zu legen. Ich halte ein paar Reden in verschiedenen Teilen des Landes, ich lerne die großen Parteiführer besser kennen, ich stelle mich gut mit einer Menge von den kleinen Fischen in den Wahlbezirken, die bis 2004 große Parteiführer sein werden. Nächstes Jahr, wenn Kane und Socorro nominiert sind, rühre ich im ganzen Land die Trommel für sie, besonders im Nordosten. Ich werde verdammt mein Bestes tun, ihnen den Staat New York zuzuführen. Was zum Teufel, ich schätze, sie werden sowieso sechs oder sieben von den großen Industriestaaten erobern, und dann sollen sie auch meinen haben, wenn ich dafür als dynamischer Parteiführer dastehe; Mortonson wird sie immer noch im Süden und im Farmer-Gürtel vom Tisch fegen. 2001 halte ich mich dann zurück und konzentriere mich auf die Wiederwahl als Bürgermeister; aber sobald das hinter mir ist, halte ich wieder Reden im Lande, und nach den Kongreßwahlen 2002 gebe ich meine Kandidatur bekannt. Dann habe ich noch das ganze Jahr Null-Drei und die Hälfte von Null-Vier, um die Delegierten zu beackern, und sobald die ersten Vorwahlen anstehen, ist mir die Nominierung sicher. Also?«