»Mir gefällt der Plan, Paul. Mir gefällt er ausgezeichnet.«
»Gut. Du wirst mein wichtigster Mann sein. Ich will, daß du dich ganz darauf konzentrierst, nationale politische Muster zu identifizieren und projizieren, so daß du Spielpläne innerhalb der größeren Struktur entwerfen kannst, die ich gerade umrissen habe. Kümmere dich nicht um das lokale Kleinzeugs, den ganzen New-York-City-Kram. Mardikian wird mit meiner Kampagne für die Wiederwahl schon ohne große Hilfe fertig. Verschaff du dir den großen Überblick; du sagst mir, was die Leute in Ohio und Hawaii und Nebraska wollen, du sagst mir, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach in vier Jahren wollen werden. Du wirst der Mann sein, der mich zum Präsidenten macht, Lew.«
»Verdammt noch mal, das werde ich«, sagte ich.
»Du wirst das Auge sein, das für mich in die Zukunft sieht.«
»Du sagst es, Mann.«
Wir klatschten uns gegenseitig in die Hände. »Auf zum Jahr 2004!« rief er.
»Washington, hier kommen wir!« brüllte ich.
Es war ein närrischer Moment, aber es war auch ein ergreifender. Geschichte hoch zu Roß, auf dem Marsch zum Weißen Haus, und ich in der Vorhut, die Fahne tragend, die Trommel rührend. Ich war so von Gefühl überwältigt, daß ich fast den Mund aufmachte, um Quinn zu sagen, er solle die Kuwait-Zeremonie jemand anderem überlassen. Aber dann war es mir, als sähe ich Carvajals trauriges Gesicht in dem Staub schweben, der im Licht tanzte, und ich hielt mich zurück. Also sagte ich nichts, und Quinn hielt am nächsten Tag seine Rede und trat natürlich tief in alle Fettnäpfchen mit seinen Hornochsenwitzen über die politische Situation im Nahen Osten. (»Wie ich höre, haben König Abdullah und Premier Eleazar letzte Woche im Casino von Eilat Poker gespielt, und der König setzte drei Kamele und eine Ölquelle, und der Premier ging höher mit fünf Schweinen und einem U-Boot, so daß der König…« Oh nein, es ist zu blöd zum Wiederholen.) Natürlich erschien Quinns Auftritt abends in allen Programmen, und am nächsten Tag wurde das Rathaus von wütenden Telegrammen überschwemmt. Mardikian rief mich an und sagte, vor dem Gebäude stünden Demonstranten des Bnai B’rith, des Vereinigten Jüdischen Mahnrufs, der Jüdischen Verteidigungsliga, die ganze Scharfmachermannschaft aus dem Hause David. Ich ging hinüber, schlich mich durch den Mob empörter Hebräer und wollte beim ganzen Kosmos um Verzeihung bitten, daß ich durch mein Schweigen dies alles hatte geschehen lassen. Lombroso war beim Bürgermeister. Wir tauschten Blicke aus. Ich fühlte mich triumphal — hatte Carvajal den Vorfall nicht genauestens vorhergesagt? — und schafsköpfig; Angst hatte ich auch. Lombroso zwinkerte mir kurz zu, was ein Dutzend Bedeutungen haben konnte, aber ich nahm es als beruhigenden und vergebungsvollen Zuspruch.
Quinn war durchaus nicht aus der Fassung gebracht. Kess tippte er mit der Spitze seines Schuhs gegen den riesigen Karton voller Telegramme und sagte mit durchtriebener Stimme: »Und so beginnen wir unsere Werbung um die Gunst des amerikanischen Wählers. Ein kleiner Fehlstart, nicht wahr, mein Junge?«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich ihm, Pfadfindereifer in meiner Stimme. »Das ist das letzte Mal, daß so etwas passiert.«
25
Ich rief Carvajal an. »Ich muß mit Ihnen reden«, sagte ich.
Wir trafen uns auf der Hudson Promenade in der Nähe der Zehnten Straße. Das Wetter war unheildrohend, dunkel, feucht und warm, der Himmel von einem bösartigen grünlichen Gelb, schwarzrandige Gewitterwolken türmten sich hoch auf über New York Jersey, und eine Stimmung bevorstehender Apokalypse durchdrang alles. Pfeile grimmigen, verfärbten Sonnenlichts, eher graublau als golden, brannten durch eine Filterschicht düsterer Wolken, die sich wie eine zerknüllte Decke in der Himmelsmitte ausbreitete. Absurdes Wetter, opernhaftes Wetter, ein lauter, übermäßig betonter Hintergrund für unser Gespräch.
Carvajals Augen leuchteten unnatürlich. Er sah größer, jünger aus, wie er da auf seinen Fußballen die Promenade entlangjazzte. Warum gewann er zwischen jeder unserer Begegnungen neue Kräfte?
»Also?« forderte er mich auf.
»Ich möchte sehen können.«
»Dann sehen Sie doch. Ich hindere Sie nicht, oder?«
»Seien Sie ernst«, bat ich.
»Das bin ich immer. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Bringen Sie es mir bei.«
»Habe ich Ihnen je gesagt, es könnte beigebracht werden?«
»Sie sagten, jeder habe die Gabe, aber nur sehr wenige wüßten damit umzugehen. Also. Zeigen Sie mir, wie man damit umgeht.«
»Der Umgang damit kann vielleicht erlernt werden«, sagte Carvajal, »aber er kann nicht gelehrt werden.«
»Bitte.«
»Warum so eifrig?«
»Quinn braucht mich«, sagte ich kleinlaut. »Ich möchte ihm helfen, Präsident zu werden.«
»Na und?«
»Ich möchte ihm helfen. Dazu muß ich sehen.«
»Aber Sie können so gut Trends ermitteln, Lew!«
»Das reicht nicht. Das reicht nicht.«
Donner dröhnte über Hoboken. Ein naßkalter Wind aus Westen rührte die zusammengeklumpten Wolken auf. Die Kulisse, mit der uns die Natur versorgte, war in grotesker, komischer Weise übertrieben.
»Angenommen, ich würde von Ihnen erwarten, mir vollständige Kontrolle über Ihr Leben zu geben«, sagte Carvajal. »Angenommen, ich würde verlangen, daß Sie mich jede Entscheidung für Sie machen lassen, daß Sie all Ihr Tun nach meinen Anweisungen ausrichten, daß Sie Ihr Leben völlig in meine Hand geben, und angenommen, ich würde sagen, daß dann eine Chance besteht, daß Sie sehen lernen. Eine Chance. Was würden Sie darauf antworten?«
»Ich würde sagen: abgemacht.«
»Wissen Sie, sehen ist vielleicht nicht so wunderbar, wie Sie es sich vorstellen. Im Moment halten Sie es für den magischen Schlüssel zu allem. Was, wenn es sich als bloße Last und als Hindernis entpuppen würde? Als Fluch?«
»Das glaube ich nicht.«
»Wie wollen Sie das wissen?«
»Eine derartige Fähigkeit kann eine ungeheuer positive Kraft sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie für mich nicht wohltätig wäre. Ich sehe die möglichen negativen Aspekte, klar, aber trotzdem — ein Fluch? Nein.«
»Und wenn es doch einer wäre?«
Ich zuckte die Achseln. »Das Risiko nehme ich auf mich. Ist es für Sie ein Fluch gewesen?«
Carvajal antwortete nicht gleich, sondern blickte zu mir auf, seine Augen suchten meine. Das war der richtige Augenblick für zuckende Blitze und fürchterliche Donnerschläge, für peitschenden Sturmregen. Nichts dergleichen geschah. Absurderweise teilten sich die Wolken direkt über uns, und süßes, weiches, gelbes Sonnenlicht umfing die dunklen Sturmesrunzeln. Soviel für Mutter Natur als Kulissenschieberin.
»Ja«, sagte Carvajal ruhig. »Ein Fluch. Wenn irgend etwas, dann ein Fluch, ein Fluch.«
»Ich glaube Ihnen nicht.«
»Was macht mir das aus?«
»Selbst wenn es für Sie ein Fluch war, glaube ich nicht, daß es für mich auch so wäre.«
»Sehr mutig, Lew. Oder sehr töricht.«
»Beides. Nichtsdestoweniger, ich möchte auch sehen können.«
»Sind Sie bereit, mein Jünger zu werden?«
Sonderbares, aufschreckendes Wort. »Was würde das bedeuten?«
»Ich habe es Ihnen schon gesagt. Sie übergeben sich mir, ohne Fragen zu stellen, ohne Garantien zu erhalten.«