»Sie haben versprochen, nicht zu fragen«, sagte er verdrossen.
»Trotzdem. Geben Sie mir einen Hinweis, oder ich kündige unsere Abmachung.«
»Meinen Sie das ernst?«
»Ich meine es ernst.«
Er versuchte, mich niederzustarren, aber seine leeren Augen, denen ich manchmal so wenig entgegensetzen konnte, schüchterten mich diesmal nicht ein. Mein Ahnungsvermögen sagte mir, ich sollte weitergehen, ihm zusetzen, Auskunft verlangen über die Struktur der Ereignisse, in die ich eintrat. Carvajal leistete Widerstand. Er wand sich und schwitzte und sagte, daß ich mein Training mit diesem ungehörigen Ausbruch von Unsicherheit um Wochen, wenn nicht um Monate zurückwürfe. Haben Sie Vertrauen, drang er in mich, folgen Sie dem Drehbuch, tun Sie, wie Ihnen geheißen, und alles wird gut sein.
»Nein«, sagte ich. »Ich liebe sie, und selbst heute ist Scheidung kein Witz. Ich kann da nicht einfach einem Einfall folgen.«
»Ihr Training…«
»Zum Teufel damit. Warum sollte ich meine Frau verlassen? Nur weil wir uns in letzter Zeit nicht sehr nahe gewesen sind? Eine Trennung von Sundara ist nicht dasselbe wie ein Haarschnitt.«
»Natürlich ist sie dasselbe.«
»Was?«
»Alle Ereignisse sind auf lange Sicht gleichwertig«, sagte er.
Ich schnaubte wütend. »Reden Sie keinen Mist. Verschiedene Handlungen haben verschiedene Konsequenzen, Carvajal. Ob ich mein Haar kurz oder lang trage, kann auf umliegende Ereignisse keine große Auswirkung haben. Aber Ehen bringen manchmal Kinder hervor, und Kinder sind einzigartige genetische Konstellationen; die Kinder, die Sundara und ich zeugen könnten, wenn wir uns dazu entschlössen, wären anders als die Kinder, die sie oder ich mit anderen Partnern hätten, und die Unterschiede — Gott, wenn wir uns trennen, heirate ich vielleicht eine andere Frau und werde der Urgroßvater des nächsten Napoleon, und wenn wir zusammenblieben, werde ich vielleicht… Wie können Sie nur behaupten, daß auf lange Sicht alle Ereignisse gleichwertig sind?«
»Sie begreifen sehr langsam«, sagte Carvajal traurig.
»Was?«
»Ich habe nicht von Auswirkungen geredet. Nur von Ereignissen. Alle Ereignisse sind gleichwertig in ihrer Wahrscheinlichkeit, Lew, womit ich meine, daß jedes Ereignis, das stattfinden wird, vollkommen wahrscheinlich ist…«
»Tautologie!«
»Ja. Aber Sie und ich, wir haben mit Tautologien zu tun. Ich sage Ihnen, ich sehe, daß Sie sich von Sundara scheiden lassen, genauso, wie ich jenen Haarschnitt gesehen habe, und daher sind diese Ereignisse von gleicher Wahrscheinlichkeit.«
Ich schloß die Augen. Für eine lange Weile saß ich ganz still.
Schließlich sagte ich: »Sagen Sie mir, warum ich mich von ihr scheiden lasse. Besteht denn keine Hoffnung, die Beziehung zu retten? Wir streiten nicht. Wir haben keine ernsten Auseinandersetzungen um Geld. In vielen Dingen haben wir dieselbe Meinung. Wir haben uns voneinander entfernt, ja, aber das ist alles, wir bewegen uns in verschiedene Richtungen. Glauben Sie nicht, daß wir wieder zusammenkommen könnten, wenn wir beide einen ernsthaften Versuch machten?«
»Doch.«
»Warum soll ich es dann nicht versuchen, anstatt…«
»Sie müßten sich auf Transit einlassen«, sagte er.
Ich zuckte die Achseln. »Ich glaube, das würde ich schaffen, wenn es sein muß. Wenn die einzige Alternative wäre, Sundara zu verlieren.«
»Sie könnten es nicht schaffen. Es ist Ihnen fremd, Lew. Es widerspricht allem, woran Sie glauben und wofür Sie arbeiten.«
»Aber um Sundara zu halten…«
»Sie haben sie schon verloren.«
»Nur in der Zukunft. Noch ist sie meine Frau.«
»Was Sie in der Zukunft verlieren, haben Sie jetzt schon verloren.«
»Ich weigere mich…«
»Sie müssen!« schrie er. »Es ist alles eins, Lew, alles eins! Sie sind so weit mit mir gegangen und begreifen das nicht?«
Ich verstand. Ich kannte jedes Argument, das er auftischen würde, und ich glaubte sie alle; mein Glaube war nicht etwas von außen mir Aufgesetztes, vielmehr etwas Inneres und Wesentliches, etwas, das während dieser letzten Monate in mir gewachsen war und sich ausgebreitet hatte. Und doch wehrte ich mich immer noch dagegen. Immer noch suchte ich ein Hintertürchen. Immer noch griff ich gierig nach jedem Strohhalm, der im Mahlstrom um mich herumwirbelte, wo ich doch schon hinuntergezogen wurde.
»Sagen Sie mir den Rest. Warum ist es notwendig und unvermeidbar, daß ich Sundara verlasse?«
»Weil Sundaras Schicksal bei Transit liegt und Ihres so fern von Transit, wie Sie sich nur halten können. Denen geht es um Ungewißheit, Ihnen um Gewißheit. Die wollen untergraben. Sie wollen aufbauen. Diese fundamentale philosophische Kluft wird noch immer weiter werden und sich nie überbrücken lassen. Also müssen Sie beide sich trennen.«
»Wie bald?«
»Sie werden noch vor Ende des Jahres allein leben«, erklärte er mir. »Ich habe Sie verschiedentlich in Ihrer neuen Wohnung gesehen.«
»Keine Frau lebt mit mir zusammen?«
»Nein.«
»Zölibat liegt mir nicht. Ich habe damit nicht viel Erfahrung.«
»Sie werden Frauen haben, Lew. Aber Sie werden allein leben.«
»Sundara kriegt das Apartment?«
»Ja.«
»Und die Gemälde, die Plastiken, die…«
»Weiß ich nicht«, sagte Carvajal gelangweilt. »Auf solche Einzelheiten habe ich wirklich nicht geachtet. Sie wissen, die bedeuten mir nichts.«
»Ich weiß.«
Er entließ mich. Ich lief drei Meilen stadtauswärts, sah nichts um mich herum, hörte nichts, dachte nichts. Ich war eins mit dem Nichts; ich war ein Teil der großen Leere. An der Ecke Soundso-Straße/Gott-weiß-wo-Avenue fand ich eine Telefonzelle, steckte eine Münze in den Schlitz, wählte die Nummer von Haig Mardikians Büro und bonzte mir meinen Weg durch den Kordon von Empfangsdamen, bis schließlich Mardikian selbst am Apparat war. »Ich lasse mich scheiden«, sagte ich und lauschte einen Augenblick lang der stillen Explosion seiner Überraschung, die wie die Brandung vor Fire Island in einem Märzsturm durch die Leitung donnerte. »Die finanzielle Seite ist mir egal«, sagte ich dann. »Ich will nur einen sauberen Schnitt. Kannst du mir einen Anwalt nennen, dem du vertraust, Haig? Jemand, der es schnell erledigt, ohne ihr weh zu tun.«
31
In Tagträumen stelle ich mir vor, wie es sein wird, wenn ich wahrhaft sehen kann. Meine Vision durchschneidet die trübe, unsichtbare Sphäre, die uns alle umgibt, und ich trete hinaus ins Reich des Lichts. Ich habe geschlafen, ich war eingekerkert, ich war blind, und nun, da die Verwandlung über mich gekommen ist, ist es wie ein Erwachen. Dahin sind die Ketten; meine Augen sind offen. Um mich herum bewegen sich langsame, unsichere, schattenverhüllte, blind stolpernde Gestalten, deren Gesichter grau sind vor Verwirrung und Ratlosigkeit. Diese Gestalten, das sind Sie, und zwischen Ihnen und um Sie herum tanze ich, meine Augen leuchten, entflammt ist mein Körper in der Freude neuer Wahrnehmung. Vorher, das war wie ein Leben tief im Meer, unter einem furchtbaren Druck und abgeschnitten von dieser erregenden Helligkeit durch jene biegsame, doch undurchdringliche Membran, die zwischen Meer und Himmel verläuft; und nun bin ich durchgebrochen, hinaus in einen Raum, wo alles glüht und strahlt, wo alles in funkelndes Licht getaucht ist und golden, violett und scharlachrot schimmert. Ja. Ja. Endlich sehe ich.
Was sehe ich?
Ich sehe die liebe, friedliche Erde, auf der unsere Dramen spielen. Ich sehe die schwitzigen Kämpfe der Blinden und Tauben, die, während sie sich mühen, von einem unbegreiflichen Schicksal herumgestoßen werden. Ich sehe, wie sich die Jahre aufrollen gleich langen Farnwedeln im Frühling, hellgrün an den Spitzen — und sich von mir weg ins Unendliche erstrecken. In grellen Blitzen periodischen Lichts sehe ich, wie Jahrzehnte zu Jahrhunderten aufschießen und wie Jahrhunderte zu Epochen und Äonen werden. Ich sehe die langsame Prozession der Jahreszeiten, die Systolen und Diastolen von Winter und Sommer, Herbst und Frühling, den ganzen fein verschränkten Rhythmus von Wärme und Kälte, Dürre und Regen, von Sonnenschein und Nebel und Dunkelheit.