»Lew, wie kannst du wissen, was Sudakis im Januar macht, wenn nicht einmal Sudakis selbst es weiß?«
»Ich weiß es«, sagte ich.
»Woher?«
»Es ist eine Ahnung.«
»Ahnung, Ahnung. Das sagst du immer. Aber das war eine Ahnung zuviel, Lew. Deine Fähigkeiten haben mit der Interpretation von Trends zu tun, nicht mit Vorhersagen individueller Fälle, nicht wahr, aber immer öfter kommst du jetzt mit diesen Einzelschlüssen daher, diesen Kristallkugeltricks, diesen…«
»Haig, hat sich irgendeine meiner Prophezeiungen als falsch erwiesen?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Nein. Keine einzige. Für viele kann man noch nichts sagen, so oder so, aber keine einzige ist durch die spätere Entwicklung widerlegt worden, keine empfohlene Aktion hat sich als unklug entpuppt, keine…«
»Trotzdem, Lew. Ich habe dir letztes Mal gesagt, wir glauben hier nicht an Wahrsager. Warum hältst du dich nicht an Projektionen erkennbarer Trends?«
»Es geht mir nur um Quinns Bestes.«
»Sicher. Aber mir scheint, du solltest mehr auf dich selbst achten.«
»Was soll das heißen?« fragte ich.
»Daß der Bürgermeister deiner Arbeit hier möglicherweise ein Ende setzen muß, wenn sie nicht etwas, nun, etwas konventioneller wird.«
»Unsinn. Er braucht mich. Haig.«
»Er fängt an, anders zu denken. Er denkt, du könntest ihm vielleicht sogar eine Belastung sein.«
»Dann erkennt er nicht, wie viel ich für ihn getan habe. Er ist tausend Kilometer näher am Weißen Haus, als er es ohne mich wäre. Hör zu, Haig; egal, ob du und Quinn mich für verrückt haltet, diese Stadt wird eines schönen Tages im Januar ohne Polizeichef aufwachen, und deshalb sollte der Bürgermeister noch heute Nachmittag mit einer Personalsuche beginnen, und das sollst du ihm sagen.«
»Das werde ich — verdammt noch mal — nicht tun. Zu deinem eigenen Schutz«, sagte Mardikian.
»Sei nicht stur.«
»Stur? Stur? Ich versuche deinen Hals zu retten!«
»Was kann es schaden, wenn Quinn in aller Ruhe nach einem neuen Polizeichef Ausschau hält? Wenn Sudakis nicht zurücktritt, kann Quinn die ganze Sache fallen lassen, und niemand muß davon erfahren. Darf ich mich nie irren? Zufällig habe ich recht in bezug auf Sudakis, aber selbst, wenn nicht, was macht’s? Ich habe eine möglicherweise nützliche Information anzubieten, die wichtig sein wird, wenn sie zutrifft, und…«
Mardikian sagte: »Niemand sagt, daß du hundert Prozent Treffer haben mußt, und natürlich kann es nicht viel schaden, für alle Fälle unauffällig nach einem neuen Polizeichef zu suchen. Der Schaden, den ich verhindern will, droht dir. Quinn hat mir so gut wie wörtlich gesagt, wenn du noch einmal mit so einer exzentrischen Prophezeiung ankommst, mit so einem Stückchen Schwarzer Magie, wird er dich dem Gesundheitsamt überweisen, und er meint es ernst, Lew, er meint es verdammt ernst. Vielleicht hast du eine ungeheure Glückssträhne gehabt, derlei Zeug aus der freien Luft zu produzieren, aber…«
»Es handelt sich nicht um Glück, Haig«, sagte ich ganz ruhig.
»Was?«
»Ich benütze überhaupt keine stochastischen Prozesse. Ich rate nicht. Ich will damit sagen, ich sehe. Ich bin in der Lage, in die Zukunft zu blicken und Gespräche zu hören, Schlagzeilen zu lesen, Ereignisse zu beobachten, ich beziehe alle möglichen Daten direkt aus der Zukunft.« Es war nur eine kleine Lüge, Carvajals Fähigkeiten mir selbst zuzuschreiben. Die Ergebnisse waren dieselben, ob nun er oder ich das Sehen besorgte. »Deshalb kann ich meine Memos nicht immer erklären«, sagte ich. »Ich schaue in den Januar, ich sehe, daß Sudakis zurücktritt, und das ist alles, ich weiß nicht warum, ich kann die umgreifende Struktur von Ursache und Wirkung noch nicht erkennen, nur das Ereignis selbst. Das ist etwas anderes als Trendprojektion, etwas völlig anderes, viel unerklärlicher, hundertprozentig verläßlich, hundertprozentig! Weil ich sehe, was passiert.«
Mardikian schwieg sehr lange.
Mit heiserer, wattiger Stimme fragte er schließlich: »Lew, meinst du das ernst?«
»Absolut.«
»Wenn ich Quinnhole, wirst du ihm genau das sagen, was du mir gerade gesagt hast? Genau dasselbe?«
»Ja.«
»Warte hier«, sagte er.
Ich wartete. Ich versuchte, an nichts zu denken. Den Geist leer halten, die Stochastizität fließen lassen: Hatte ich einen Fehler gemacht, zu hoch gereizt? Ich war nicht der Meinung. Ich hielt die Zeit für gekommen, den Schleier zu lüften. Aus Gründen der Plausibilität hatte ich Carvajals Rolle in dem Prozeß nicht erwähnt, aber ansonsten hatte ich nichts zurückgehalten; ich empfand eine tiefe Entspannung, eine warme Woge der Erleichterung durchzog mich, da ich nun endlich aus meinem Versteck getreten war.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten kehrte Mardikian zurück. Der Bürgermeister war bei ihm. Sie machten ein paar Schritte ins Büro hinein und blieben dann Seite an Seite in Türnähe stehen; ein seltsames Paar: Mardikian dunkel und lächerlich groß, Quinn blond, kurz, korpulent. Sie wirkten entsetzlich ernst.
Mardikian sagte: »Sag dem Bürgermeister, was du mir gesagt hast, Lew.«
Munter wiederholte ich mein Eingeständnis des zweiten Gesichts und benützte, soweit wie möglich, die gleichen Redewendungen wie beim ersten Mal. Quinn hörte ausdruckslos zu. Als ich fertig war, fragte er: »Wie lange arbeitest du schon für mich, Lew?«
»Seit Anfang ‘96.«
»Fast vier Jahre. Und seit wann hast du einen direkten Draht zur Zukunft?«
»Noch nicht lange. Erst seit letztem Frühjahr. Du erinnerst dich, als ich dir riet, das Ölgelierungsgesetz schnell verabschieden zu lassen, kurz bevor die Tanker vor Texas und Kalifornien verunglückten? Ungefähr damals war es. Das war kein Raten. Und dann, die anderen Sachen, die manchmal so seltsam wirkten…«
»Wie aus der Kristallkugel«, sagte Quinn nachdenklich.
»Ja. Ja. Weißt du noch, Paul, was du an dem Tag zu mir gesagt hast, als du mir deinen Entschluß mitgeteilt hast, Null-Vier für die Präsidentschaft zu kandidieren? Du sagtest: Du wirst das Auge sein, das für mich in die Zukunft sieht. Du wußtest nicht, wie recht du hattest!«
Quinn lachte. Es war kein fröhliches Lachen.
Er sagte: »Ich dachte, wenn du für ein paar Wochen auf Erholung gingest, Lew, würdest du dich schon wieder fassen. Aber jetzt sehe ich, daß das Problem viel tiefer liegt.«
»Was?«
»Du warst mir vier Jahre lang ein guter Freund und ein wertvoller Berater. Ich will den Dienst, den du mir erwiesen hast, nicht unterschätzen. Vielleicht hast du deine Ideen aus intuitiver Trendanalyse bezogen oder vielleicht aus Computern, oder vielleicht hat ein Geist dir die Sachen ins Ohr geflüstert — wo immer du ihn hergenommen hast, du hast mir guten Rat gegeben. Aber nach dem, was ich eben gehört habe, kann ich nicht riskieren, dich in meinem Stab zu behalten. Wenn sich herumspricht, daß Paul Quinns wichtigste Entscheidungen von einem Guru, einem Seher, einer Art hellsichtigem Rasputin für ihn gefällt werden, daß ich in Wahrheit nur eine Puppe bin, die im Dunkeln zappelt, bin ich erledigt, tot. Wir beurlauben dich ab sofort, dein Gehalt zahlen wir dir bis zum Ende des Steuerjahres weiter, in Ordnung? Damit hast du mehr als sieben Monate Zeit, deine alte private Beratungsfirma wieder in Gang zu bringen, bevor du von den Gehaltslisten der Stadt gestrichen wirst. Mit deiner Scheidung und allem bist du wahrscheinlich finanziell in einer schwierigen Lage, und ich möchte es nicht schlimmer für dich machen. Und wir wollen noch eine Abmachung treffen, du und ich: Ich werde öffentlich keine Erklärung über die Gründe deines Rücktritts abgeben, und du wirst nicht verkünden, woher du deine Ratschläge für mich bezogen hast. Einverstanden?«
»Du wirfst mich raus?« murmelte ich.
»Es tut mir leid, Lew.«
»Ich kann dich zum Präsidenten machen, Paul!«
»Das werde ich wohl alleine schaffen müssen.«
»Du denkst, ich bin verrückt, nicht wahr?« sagte ich.
»Das ist ein hartes Wort.«
»Aber das denkst du, stimmt’s? Du denkst, ein gefährlicher Irrer hat dich beraten, und es zählt nicht, daß der Irre immer recht gehabt hat, du mußt ihn rauswerfen, denn es würde schlecht für dich aussehen, ja, sehr schlecht, wenn die Leute dächten, du hättest einen Zauberer in deinem Stab, und deshalb…«
»Bitte, Lew«, sagte Quinn. »Mach es mir nicht noch schwerer.« Er durchquerte den Raum und nahm meine schlaffe, kalte Hand in seinen festen Griff. Sein Gesicht war meinem nahe. Hier kam sie: die berühmte Quinn-Tour, noch einmal, ein letztes Mal. Beschwörend sagte er: »Glaube mir, du wirst mir fehlen. Als Freund, als Berater. Vielleicht mache ich einen großen Fehler. Und was ich tun muß, ist schmerzlich. Aber du hast recht: Ich kann es nicht riskieren, Lew. Ich kann es nicht riskieren.«