Saturnalien, ja, darum handelte es sich, eine irre Orgie, eine Raserei ekstatischer Geister. Jede Droge aus dem psychedelischen Arsenal wurde an Straßenecken angeboten, und der Verkauf schien lebhaft. Niemand ging mehr auf gerader Linie. Sirenen heulten überall, als das Treiben toller wurde. Ich selbst nahm keine Drogen außer der uralten, Alkohol, den aber überaus reichlich, in einer Taverne nach der anderen, ein Bier hier, einen schrecklichen Whisky dort, etwas Tequila, etwas Rum, einen Martini, sogar dunklen, süßen Sherry. Ich war benommen, aber nicht erledigt: Irgendwie gelang es mir, aufrecht zu bleiben, und mein Geist schien mit der gewohnten Klarheit zu funktionieren, während ich beobachtete und registrierte.
Sichtbar stieg die Tollheit von Stunde zu Stunde. In den Bars waren Nackte um neun Uhr noch selten, aber um halb zehn tummelte sich nacktes, verschwitztes Fleisch überalclass="underline" wippende Brüste, wackelnde Hintern, klatscht in die Hände, hoch mit den Füßen, und jetzt alle im Kreis. Um halb zehn sah ich die ersten Leute auf der Straße vögeln, um zehn wurde beinah in jedem Hauseingang gebumst. Eine Unterströmung von Gewalttätigkeit war den ganzen Abend über gegenwärtig gewesen — Fenster wurden eingeschlagen, Straßenlampen zerschossen —, aber nach zehn schwoll sie rasch an: Es gab Schlägereien, einige freundschaftlich, einige blutrünstig, und an der Ecke von Siebenundfünfzigster Straße und Fifth Avenue war eine Massenschlacht im Gange, Hunderte von Männern und Frauen schienen wahllos aufeinander einzuprügeln. Überall beschimpften sich Autofahrer lautstark gegenseitig, und ich hatte das Gefühl, daß einige Fahrer absichtlich ihre Wagen in andere hineinjagten, aus purer Freude an der Zerstörung. Gab es Mord und Totschlag? Gewiß. Vergewaltigungen? Tausende. Verstümmelungen und andere Monstrositäten? Ich zweifle nicht daran.
Und wo waren die Polizisten? Ab und zu sah ich sie: einige, die verzweifelt versuchten, die Wogen des Chaos zu bändigen, andere, die nachgaben und sich vom Chaos mitreißen ließen, Polizisten mit geröteten Gesichtern und glasigen Augen, die glücklich sich in Schlägereien hineinschmissen und sie zu brutalen Gefechten eskalierten, Polizisten, die von den Straßenhändlern Drogen kauften, Polizisten, die, nackt bis zur Hüfte, in Bars sich nackte Mädchen griffen, Polizisten, die grölend mit ihren Knüppeln Windschutzscheiben einschlugen. Der allgemeine Wahnsinn war ansteckend. Nach einer Woche apokalyptischer Anbahnung, einer Woche grotesker Spannung hatte niemand seine Vernunft sehr fest im Griff.
Die Mitternacht fand mich auf dem Times Square. Der alte Brauch, von einer Stadt im Niedergang schon lange nicht mehr ausgeübt: Tausende, Hunderttausende, Schulter an Schulter zwischen Sechsundvierzigster und Zweiundvierzigster Straße, singend, brüllend, küssend, schunkelnd. Plötzlich schlug die Stunde. Grelle Scheinwerfer durchbohrten den Himmel. Die Spitzen der Bürotürme erglänzten in Flutlicht. Das Jahr 2000! Das Jahr 2000! Und auch mein Geburtstag war gekommen! Herzlicher Glückwunsch zum Geburtstag! Glücklicher, glücklicher, glücklicher Lew!
Ich war betrunken. Ich war von Sinnen. Die universelle Hysterie tobte in mir. Meine Hände packten die Brüste einer Frau und quetschten sie, ich preßte meinen Mund auf einen Mund und spürte, wie ein feuchtheißer Körper sich an meinen drängte. Die Menge spülte uns auseinander, und ich trieb in der Menschenflut, lachend, nach Atem ringend, umarmend, hüpfend, fallend, stolpernd, beinahe überrannt von tausend Füßen.
»Feuer!« schrie jemand, und wirklich tanzten Flammen hoch auf einem Gebäude an der Vierundvierzigsten Straße. So wunderbar leuchtendes Orange — wir schrieen und klatschten Beifall. Alle waren wir Nero heute nacht, dachte ich, und wurde weitergetrieben, südwärts. Die Flammen konnte ich nicht mehr sehen, aber der Geruch von Rauch breitete sich in der Gegend aus. Glocken läuteten. Noch mehr Sirenen. Chaos, Chaos, Chaos.
Und dann war mir, als ob eine Faust auf meinen Hinterkopf einschlüge, und an einer offenen Stelle fiel ich betäubt auf die Knie, bedeckte mein Gesicht mit den Händen, um den nächsten Schlag abzuwehren, aber es kam kein nächster Schlag, nur eine Flut von Visionen. Visionen. Ein Sturzbach von Bildern donnerte durch meinen Geist. Ich sah mich alt und schwach, hustend in einem Krankenhausbett, eine glänzende, spinnenhafte Batterie medizinischer Apparate um mich herum; ich sah mich in einem klaren Bergsee schwimmen; ich sah mich von einer wütenden Brandung auf eine tropische Küste geschleudert werden. Ich spähte in das geheimnisvolle Innere eines riesigen, unbegreiflichen, kristallhaften Mechanismus. Ich stand am Rande eines Lavafeldes, beobachtete, wie glutflüssige Massen brodelten und platzten, wie am ersten Morgen auf Erden. Farben bestürmten mich. Stimmen flüsterten zu mir, flüsterten Bruchstücke von Worten und zerrissene Sätze. Das ist ein Trip, sagte ich mir, ein Trip, ein Trip, ein sehr schlechter Trip, aber selbst der schlechteste Trip endet einmal, und zitternd kauerte ich mich zusammen, versuchte, dem Alptraum keinen Widerstand zu leisten, sich ihn in mir austoben zu lassen. Es mochte Stunden gedauert haben — vielleicht auch nur eine Minute. In einem klaren Augenblick sagte ich mir: Ich sehe, so geht es los, wie ein Fieber, wie ein Ausbruch von Wahnsinn. Ich weiß noch, daß ich mir so zuredete.
Ich erinnere mich auch, daß ich kotzte, des Abends vermischten Alkohol in schnellen, schweren Zuckungen ausspie und danach neben der stinkenden Pfütze hockte, schwach, zitternd, unfähig, mich zu erheben. Und dann der Donner, Zeus’ majestätischer, keine Widerrede duldender Groll. Eine große Stille folgte diesem einen entsetzlichen Donnerschlag. Überall in der Stadt kamen die Saturnalien zum Stillstand: Die New Yorker hielten inne, erstarrten, wandten ihre Augen in Verwunderung und Schrecken zum Himmel. Was nun? Donner in einer Winternacht? Würde sich das Meer erheben und aus unserem Spielplatz ein Atlantis machen? Minuten nach dem ersten Donner folgte ein zweiter, aber kein Blitz, und dann, nach einer Pause, der dritte; dann kam der Regen, sanft zuerst, aber bald war es ein Wolkenbruch, ein warmer Frühlingsregen, der uns in das Jahr 2000 spülte. Unsicher stellte ich mich auf die Beine, und nachdem ich den ganzen Abend keusch meine Kleider anbehalten hatte, zog ich mich nun aus, stand nackt auf dem Broadway, die Füße flach auf dem Pflaster, den Kopf nach oben gewandt, und ließ den Guß Schweiß, Tränen und Überdruß von mir waschen, ließ ihn in meinen Mund laufen, um den üblen Geschmack des Erbrochenen auszuspülen. Ein wundersamer Augenblick. Aber bald fror ich. April war vorbei, Dezember kehrte zurück. Mein Geschlecht schrumpelte zusammen, meine Schultern verspannten sich. Zitternd zog ich meine klitschigen Kleider an und begann, wieder nüchtern, durchnäßt, jämmerlich, ängstlich, in jeder Toreinfahrt Räuber und Halsabschneider wähnend, den langen Schlurfmarsch durch die Stadt. Alle zehn Blocks, die ich passierte, schien die Temperatur um fünf Grad zu stürzen; als ich die East Side erreichte, fror ich hundsgemein, und als ich die Siebenundfünfzigste Straße überquerte, hatte sich der Regen in Schneetreiben verwandelt. Der Schnee blieb liegen, bedeckte die Straßen, die Automobile und die hingestreckten Körper der Besoffenen, der Bewußtlosen und der Toten mit feinem Puder. Es schneite mit voller winterlicher Bösartigkeit. Als ich mein Apartment erreichte, war es fünf Uhr früh, am Morgen des 1. Januar 2000 A. D. Ich ließ meine Kleider auf den Boden fallen und sank nackt ins Bett, fröstelnd, wund und weh, ich zog meine Knie an die Brust und war mir halbwegs sicher, vor Morgengrauen zu sterben. Vierzehn Stunden vergingen, bevor ich erwachte.