Und so begab sich Reverend Thrower ins Innere, zusammen mit all den anderen, um zum ersten Mal den Himmel von einem Dachbalken eingenommen zu sehen, der nicht weniger als vierzig Fuß lang war — und das war erst die Hälfte dessen, was einmal sein würde. Meine Kirche, dachte Thrower, ist schon jetzt viel prachtvoller als das meiste, was ich in Philadelphia selbst zu Gesicht bekommen habe.
Oben auf dem schwachen Gerüst war Measure damit beschäftigt, einen Holzpflock durch die Kerbe am Ende des Dachbalkens hinein in das Loch am oberen Teil des Stützpfahl zu treiben. Wastenot leistete die gleiche Arbeit an seinem Ende. Diese Pflöcke würden den Balken an Ort und Stelle halten, bis die Querstreben ausgelegt werden konnten. War das erledigt, so würde der Dachbalken so fest sein, daß sie den Kreuzbalken fast entfernen könnten, würde er nicht dort für den Leuchter benötigt, der die Kirche bei Nacht erhellen sollte. Bei Nacht, damit das getönte Glas die Dunkelheit draußen erhellen konnte. Von einem solch wunderbaren Ort träumte Reverend Thrower. Sollten die schlichten Gemüter dieser Leute doch vor Ehrfurcht verstummen, wenn sie diesen Ort erblickten, um über die Herrlichkeit Gottes nachzudenken.
Plötzlich wurde Thrower aus seinen Gedanken gerissen. Measure stieß einen Angstschrei aus, und alle mußten entsetzt mitansehen, daß der mittlere Pfeiler unter den Hieben von Measures Schlegel auf den Holzpflock gesplittert war und zu zittern begonnen hatte. Das riß den Balken am anderen Ende aus Wastenots Händen und zerschmetterte das Gerüst wie Zunder. Der Dachbalken schien einen Augenblick in der Luft schwebenzubleiben, völlig waagerecht, dann donnerte er herab, als hätte der Herr selbst ihn zu Boden geschleudert.
Reverend Thrower ahnte, daß jemand unmittelbar unter diesem Balken stehen würde, genau dort, wo er zu Boden gehen würde. Er wußte es, weil er sich des Jungen bewußt war, den sein eigener Schrei »Alvin!» an genau der falschen Stelle stehenbleiben ließ.
Im nächsten Moment sah Thrower, wie recht er hatte. Seine Ahnung bewahrheitete sich. Dort unten stand Alvin und blickte zu den Balken herauf, der ihn erschlagen würde. Ja, der Junge würde zerschmettert werden, zermalmt, sein Blut würde über das weiße Holz des Kirchbodens spritzen. Diesen Fleck bekomme ich nie wieder heraus, dachte Thrower — ein wahnwitziger Gedanke, doch im Augenblick des Todes konnte niemand sein eigenes Denken beherrschen.
Thrower sah den Aufprall wie einen blendenden Lichtblitz. Er hörte das Krachen von Holz. Er hörte die Schreie. Dann erblickte er den Balken am Boden, genau dort, wo sich Alvin befunden hatte, aber — o Wunder! — in der Mitte war der Balken in zwei Teile gespalten, und zwischen den beiden Teilen stand Alvin, sein Gesicht aschfahl von Entsetzen.
Unversehrt. Der Junge war völlig unversehrt.
Thrower verstand weder Deutsch noch Schwedisch, doch er wußte sehr wohl, was das aufgeregte Gerede in seiner Nähe bedeutete. Sollen sie doch Gott lästern — ich muß verstehen, was hier geschehen ist, dachte Thrower. Er schritt zu dem Jungen hinüber, legte die Hände auf den Kopf des Kindes, suchte nach einer Verletzung. Nicht ein Haar war ihm gekrümmt worden, doch der Kopf des Jungen fühlte sich warm an, sehr warm, als hätte er neben einem Feuer gestanden. Dann kniete Thrower sich nieder und musterte das Holz des Dachbalkens. Es war so säuberlich durchgeschnitten, als wäre das Holz eben so gewachsen, gerade breit genug, um den Jungen völlig zu verfehlen.
Im nächsten Augenblick kam auch Als Mutter, nahm ihren Jungen auf, schluchzend vor Erleichterung. Auch Kleinalvin weinte. Doch Thrower mußte sich um anderes kümmern. Schließlich war er ein Mann der Wissenschaft, und was er hier gesehen hatte, war unmöglich. Er ließ die Männer die Länge des Dachbalkens abschreiten und ließ ihn erneut abmessen. Der Balken lag in seiner ursprünglichen Länge auf dem Boden — das Ostende ebensoweit vom Westende entfernt, wie es sein sollte. Das jungengroße Stück in der Mitte war einfach verschwunden. Verschwunden in einem kurzen Feuerblitz, der Alvins Kopf und die Enden des Holzes so heiß wie Kohlen zurückgelassen, zugleich aber in keiner Weise gezeichnet oder versengt hatte.
Dann fing Measure am Querbalken zu schreien an, von dem er an den Armen herabhing; er hatte sich nach dem Einsturz des Gerüsts daran festklammern können. Wantnot und Calm kletterten hinauf und holten ihn unbeschadet herunter. Reverend Thrower widmete alledem keine Aufmerksamkeit. Das einzige, woran er denken konnte, war ein sechsjähriger Junge, der unter einem herabstürzenden Dachbalken stehen konnte, so daß der Balken auseinanderbrach und Platz für ihn machte. Wie das Rote Meer sich für Moses geteilt hatte, zur rechten Hand und zur linken.
»Siebenter Sohn«, murmelte Wastenot. Der Junge saß auf dem herabgestürzten Dachbalken, knapp neben von der Bruchstelle.
»Wie?» fragte Reverend Thrower.
»Nichts«, sagte der junge Mann.
»Du hast »siebenter Sohn‹ gesagt«, sagte Thrower. »Aber der kleine Calvin ist doch der siebente.«
Wastenot schüttelte den Kopf. »Wir hatten noch einen Bruder. Er ist wenige Minuten nach Als Geburt gestorben.«
Wastenot schüttelte erneut den Kopf. »Der siebente Sohn eines siebenten Sohnes.«
»Aber dann ist er ja eine Teufelsbrut!» sagte Thrower entsetzt.
Wastenot sah ihn voller Verachtung an. »Vielleicht glaubt ihr in England so etwas, aber wir hier sehen in so einem einen Heiler, vielleicht aber auch einen Rutengänger, und zwar einen sehr guten, egal, was er sein mag.«
Dann dachte Wastenot an etwas und grinste. »Teufelsbrut‹«, wiederholte er, die Worte bösartig betonend. »Klingt mir eher nach Hysterie.«
Voller Zorn schritt Thrower aus der Kirche.
Er fand Mistress Faith auf einem Schemel sitzend, wie sie Alvin im Schoß hielt und ihn sanft tadelte. »Habe dir doch gesagt, du sollst nicht einfach loslaufen, ohne hinzusehen, immer unterwegs, kann dich ja niemals stillhalten, da wird man ja kirre, wenn man auf dich aufpassen soll«
Dann erblickte sie Thrower, der vor ihr stand, und verstummte.
»Keine Sorge«, sagte sie schließlich, »ich werde ihn nicht wieder hierher mitnehmen.«
»Das beruhigt mich um seiner Sicherheit willen«, erwiderte Thrower. »Wenn ich daran denken müßte, daß meine Kirche um den Preis des Lebens eines Kindes hätte erbaut werden müssen, so hätte ich lieber den Rest meines Lebens im Freien gepredigt.«
Sie musterte ihn eindringlich und erkannte, daß er es von ganzem Herzen ernst meinte. »Ist nicht Eure Schuld«, sagte sie. »Er war schon immer ein tapsiger Junge. Er scheint Dinge zu überleben, an denen jedes gewöhnliche Kind sterben würde.«
»Ich würde… ich würde gerne begreifen, was dort drinnen geschehen ist.«
»Der Dachbalken hat gewackelt, natürlich«, sagte sie. »So etwas passiert schon einmal.«
»Ich meine, wie er ihn verfehlen konnte. Der Balken ist auseinandergebrochen, noch bevor er seinen Kopf berührt hat. Ich möchte gerne seinen Kopf befühlen, wenn ich darf…«
»Nicht einmal eine Schramme daran«, erwiderte sie.
»Ich weiß. Ich möchte fühlen, ob ich feststellen kann…«
Sie verdrehte die Augen und murmelte: »Rutengehen nach Gehirnen«, zugleich nahm sie aber auch die Hände fort, damit er den Kopf des Kindes befühlen konnte: ganz langsam und vorsichtig, um die Landkarte des jungen Schädels verstehen zu lernen und die Furchen und die Ausbuchtungen zu lesen. Dazu mußte er kein Buch konsultieren, die Bücher waren ohnehin Unfug, sie brachten ausnahmlos nur idiotische Verallgemeinerungen wie: »Der Rote hat stets einen Höcker unmittelbar über dem Ohr, was Wildheit und Kannibalismus anzeigt«, obwohl die Roten natürlich ebenso viele Kopfformen aufwiesen wie die Weißen. Nein, Thrower vertraute diesen Büchern nicht — doch hatte er tatsächlich einiges über Leute mit besonderen Fähigkeiten in Erfahrung gebracht, und Höcker hatten sie alle gemeinsam. Er hatte gewisse Erfahrungswerte herausbekommen, gleichsam eine Karte der menschlichen Schädelformen entworfen; wie er seine Hände über Als Kopf fahren ließ, kannte er sich also aus.