Thrower griff nach der dargebotenen Hand, um sie mit Küssen zu bedecken; doch als er sie berühren wollte, griff er ins Leere: Der Besucher war wieder verschwunden.
9. Geschichtentauscher
Es gab einmal eine Zeit, wie sich Geschichtentauscher gut erinnern konnte, da er einen Baum besteigen und über Hunderte von Quadratmeilen dichten Wald blicken konnte. Eine Zeit, da Eichen hundert Jahre alt wurden oder älter, eine Zeit, da der Wald so dicht war, daß er kaum vom Licht der Sonne durchdrungen wurde.
Doch diese Welt ewiger Dämmerung verging mehr und mehr. Zwar gab es noch immer Gegenden, wo Rote leise dem Wild nachschlichen und wo Geschichtentauscher das Gefühl hatte, sich in der Kathedrale Gottes zu befinden. Doch solche Stellen waren inzwischen so selten geworden, daß Geschichtentauscher in diesem letzten Jahr der Wanderschaft nicht einen Tag gereist war, an dem er einen Baum hätte erklimmen können, ohne im Walddach eine Unterbrechung wahrzunehmen. Das ganze Land zwischen dem Hio und dem Wobbish wurde besiedelt, langsam aber gleichmäßig, und schon jetzt konnte Geschichtentauscher von einem Hügel aus drei Dutzend Kochfeuer erblicken, die ihre Rauchsäulen geradewegs in die kalte Herbstluft emporschickten. Und in jeder Richtung hatte man den Wald gerodet, hatte das Land gepflügt, es bepflanzt und beackert und hatte geerntet, so daß dort, wo einst große Bäume die Erde vor dem Auge des Himmels abgeschirmt hatten, der Boden nun nackt war und darauf wartete, daß der Winter seine Scham bedeckte.
Geschichtentauscher erinnerte sich an seine Vision vom betrunkenen Noah: Noah, nackt, mit offenhängendem Mund, ein halb ausgegossener Becher, der noch immer an seinen gekrümmten Fingern hing; Cham, nicht weit entfernt, verächtlich lachend; und Japheth und Sem, die sich rückwärts näherten, um einen Mantel über ihren Vater zu legen, damit sie nicht erblickten, was ihr Vater in seiner Trunkenheit offengelegt hatte. Voller Erregung begriff Geschichtentauscher, daß genau diesen Anblick jener prophetische Augenblick vorhergesagt hatte. Daß er, Geschichtentauscher, hoch in einem Baumwipfel sitzend, das nackte Land in seinem Stupor daliegen sah, wie es auf die keusche Bedeckung des Winters wartete. Es war eine erfüllte Prophezeiung, etwas, auf das man zwar hoffte, das man im eigenen Leben aber nicht erwarten durfte.
Andererseits war die Geschichte vom betrunkenen Noah möglicherweise überhaupt keine Figurine dieses Augenblicks. Warum sollte es nicht umgekehrt sein? Warum nicht das gerodete Land als Figurine des trunkenen Noah?
Als er den Baum hinabgestiegen war, war Geschichtentauscher in übler Stimmung. Er dachte nach und dachte nach, versuchte seinen Geist zu öffnen, um Visionen zu schauen, um ein guter Prophet zu sein. Doch jedes Mal, wenn er glaubte, daß er etwas fest in den Griff bekommen hatte, verschob es sich, veränderte es sich. Er dachte einen Gedanken zuviel, und schon löste sich das ganze Gewebe wieder auf, und er war ebenso verunsichert wie zuvor.
Am Fuße des Baumes öffnete er sein Bündel. Daraus holte er das Buch der Geschichten hervor, das er damals, im Jahre '85 für den Alten Ben gemacht hatte. Vorsichtig schnallte er den versiegelten Teil auf, dann schloß er die Augen und blätterte in den Seiten. Er öffnete die Augen wieder und fand seinen Finger auf den Sprichwörtern der Hölle ruhend. Natürlich — in einer solchen Zeit! Sein Finger berührte zwei Sprichworte, beide von eigener Hand geschrieben. Das eine hatte eine besondere Bedeutung, das andere jedoch schien passend. »Ein Narr sieht nicht denselben Baum, den ein Weiser sieht.«
Doch je mehr er versuchte, die Bedeutung dieses Sprichworts für diesen Augenblick zu erkennen, um so weniger Verbindungen zur Gegenwart entdeckte er, mit Ausnahme dessen, daß es eben Bäume erwähnte. Daher versuchte er es schließlich doch mit dem ersten Sprichwort: »Wenn der Tor in seiner Torheit beharrlich wäre, würde er weise werden.«
Aha! Es sagte ihm also doch etwas. Dies war die Stimme der Prophezeiung, festgehalten, als er in Philadelphia lebte, noch bevor er seine Reise überhaupt begonnen hatte, in einer Nacht, da das Buch der Sprichworte für ihn zum Leben erwacht war und er wie in Flammenschrift die Wörter erblickte, die darin enthalten sein sollten. In jener Nacht war er so lange aufgeblieben, bis das Licht der Morgendämmerung die Feuer der Seiten zum Erlöschen gebracht hatte. Als dann der Alte Ben die Treppen heruntergepoltert kam, um sich vor dem Frühstück hereinzumuffeln, war er stehengeblieben und hatte schnüffelnd die Luft geprüft. »Rauch«, hatte er gesagt. »Hast du versucht, das Haus abzubrennen, Bill?«
»Nein, Sir«, hatte Geschichtentauscher geantwortet, »aber ich habe eine Vision davon gehabt, was Gott mit dem Buch der Sprichworte sagen wollte, und ich habe sie niedergeschrieben.«
»Du bist von Visionen besessen«, hatte der Alte Ben geantwortet. »Die einzige wirkliche Vision stammt nicht von Gott, sondern aus den innersten Verstecken, des menschlichen Geistes. Wenn du willst, kannst du das gern als Sprichwort aufschreiben. Es ist viel zu agnostisch, als daß ich es für den Poor Richard's Almanac benutzen könnte.«
»Schaut!» hatte Geschichtentauscher gesagt.
Der Alte Ben hatte hingesehen und die letzten Flammen erblickt, wie sie gerade erloschen. »Hm, wenn das nicht eine äußerst ungewöhnliche Art ist, mit Buchstaben zu verfahren! Und du hast mir gesagt, daß du kein Zauberer wärst!«
»Das bin ich auch nicht. Gott hat mir dies gegeben.«
»Gott oder der Teufel? Wenn du von Licht umgeben bist, Bill, woher willst du da wissen, daß es die Herrlichkeit Gottes ist und nicht die Flammen der Hölle?«
»Ich weiß es nicht«, hatte Geschichtentauscher voller Verwirrung geantwortet. Weil er damals noch jung gewesen war, noch nicht einmal dreißig, war er in der Gegenwart des großen Mannes leicht zu verwirren gewesen.
»Oder vielleicht hast du selbst es dir auch gegeben, weil du die Wahrheit so eindringlich haben wolltest.«
Der Alte Ben hatte den Kopf schräg gelegt, um die Seiten der Stichworte durch die unteren Linsen seiner Brille zu betrachten. »Die Buchstaben haben sich richtig eingebrannt. Seltsam, nicht wahr, daß man mich einen Zauberer nennt, der ich keiner bin, und daß du, der einer bist, dich weigerst, es zuzugeben!«
»Ich bin ein Prophet. Oder… möchte einer sein.«
»Wenn eine deiner Prophezeiungen Wirklichkeit wird, Bill Blake, dann werde ich es glauben. Aber erst dann.«
In den darauf folgenden Jahren hatte Geschichtentauscher nach der Erfüllung auch nur einer einzigen Prophezeiung gesucht. Doch jedesmal, wenn er geglaubt hatte, eine solche Erfüllung gefunden zu haben, konnte er im Hinterkopf die Stimme des Alten Ben hören, der eine andere Erklärung dafür anbot und ihn dafür verhöhnte, daß er glaubte, daß eine Beziehung zwischen Prophezeiung und Realität wahr sein könnte.
»Niemals wahr«, pflegte der Alte Ben zu sagen. »Nützlich… also da ist schon etwas dran. Dein Geist stellt eine Verbindung her, die nützlich ist. Aber Wahrheit ist eine andere Sache. Das würde bedeuten, daß du eine Verbindung entdeckt hättest, die unabhängig von deiner Wahrnehmung existiert, die also existieren würde, ob du sie bemerktest oder nicht. Und ich muß feststellen, daß ich nie in meinem Leben eine solche Verbindung geschaut habe. Es gibt Zeiten, da ich den Verdacht hege, daß es keine solchen Verbindungen gibt, daß alle Verbindungen und Ähnlichkeiten nur Geschöpfe des Denkens sind und keine Substanz besitzen.«
»Warum löst sich dann der Boden unter unseren Füßen nicht auf?» hatte Geschichtentauscher gefragt.
»Weil es uns gelungen ist, ihn davon zu überzeugen, unsere Körper nicht durchzulassen. Vielleicht war es auch Sir Isaac Newton, der war ja so ein beharrlicher, überzeugender Bursche. Und wenn Menschen ihn auch anzweifeln mögen, der Erdboden tut es jedenfalls nicht, und deshalb hält er durch.«