Doch solcherlei Gedanken führten zu nichts, wie er genau wußte. Das war die Art Sehen, die eine Fackel beherrschte — er hatte oft genug mitangesehen, wie sie es taten, und es hatte ihn mit Furcht erfüllt, denn es war nicht gut, wenn ein Mensch allzuviel von seinem Lebensweg im voraus wußte. Nein, was er sich als Fertigkeit wünschte, war die Gabe der Prophezeiung, nicht die kleinen Handlungen von Männern und Frauen in ihren kleinen Winkeln der Welt zu schauen, sondern vielmehr den großen Strom der Ereignisse, wie sie von Gott gelenkt wurden. Oder von Satan — da war Geschichtentauscher nicht wählerisch, denn beide besaßen eine recht gute Vorstellung davon, was sie mit der Welt vorhatten, so daß wahrscheinlich jeder von ihnen einige Dinge über die Zukunft wußte. Natürlich war es wahrscheinlich angenehmer, von Gott zu hören. Die Spuren des Bösen, mit denen er bisher in seinem Leben in Verbindung geraten war, hatten alle auf die eine oder andere Weise Schmerzen verursacht.
Die Kirchentür stand offen, denn es war ein warmer Herbsttag. Das Gotteshaus wirkte innen ebenso stattlich wie außen, doch um einiges freundlicher: ein heller und luftiger Ort mit gekalkten Wänden und Glasfenstern. Sogar die Bänke und die Kanzel waren von hellem Holz. Dunkel hier war einzig der Altar, so daß er sofort seine Aufmerksamkeit erregte. Und weil er ein Talent für diese Art von Dingen besaß, entdeckte er auf ihm Spuren einer Flüssigkeit.
Langsam schritt er auf den Altar zu, langsam, weil so ein Ding eigentlich nicht in einer christlichen Kirche hätte stehen dürfen. Als er näher gekommen war, gab es jedoch keinen Zweifel mehr. Es war die gleiche Spur, die er auf dem Gesicht des Mannes in DeKane gesehen hatte, der seine eigenen Kinder zu Tode gequält und es den Roten angelastet hatte. Dieselbe Spur hatte er auf dem Schwert wahrgenommen, das George Washington geköpft hatte. Es war wie eine dünne Schicht schmutzigen Wassers, unsichtbar, es sei denn, man blickte es aus einem bestimmten Winkel an. Doch für Geschichtentauscher war es immer sichtbar — er hatte ein Auge dafür.
Er streckte die Hand vor und legte den Zeigefinger vorsichtig auf die deutlichste Spur. Es bedurfte all seiner Kraft, ihn auch nur einen Augenblick dort zu behalten, so sehr brannte es, es ließ seinen ganzen Arm zittern und schmerzen bis hinauf zur Schulter.
»Ihr seid willkommen im Haus Gottes«, sagte eine Stimme.
Geschichtentauscher, der seinen verbrannten Finger in den Mund gesteckt hatte, drehte sich zu dem Sprechenden um. Der Mann war wie ein Prediger des Schottischen Ritus gekleidet — ein Presbyterianer, wie man sie hier in Amerika nannte.
»Ihr habt Euch doch wohl keinen Splitter zugezogen, oder?» fragte der Prediger.
Es wäre leichter gewesen, einfach nur zu sagen: »Ja, ich habe mir einen Splitter zugezogen.«
Doch Geschichtentauscher erzählte nur Geschichten, die er auch glaubte. »Prediger«, sagte Geschichtentauscher, »der Teufel hat seine Hand auf diesen Altar gelegt.«
Sofort verschwand das fröhliche Lächeln des Predigers. »Woher wißt Ihr, daß es der Handabdruck des Teufels ist?«
»Die Fähigkeit zu sehen ist eine Gabe Gottes«, sagte Geschichtentauscher.
Der Prediger musterte ihn eindringlich, unsicher, ob er ihm glauben sollte oder nicht. »Dann könntet Ihr also auch feststellen, was von Engeln berührt wurde?«
»Ich glaube, ich könnte Spuren feststellen, wenn gute Geister eingegriffen hätten. Ich habe solche Markierungen schon gesehen.«
Der Prediger hielt inne, als wollte er eine sehr wichtige Frage stellen, als würde er sich aber auch vor der Antwort fürchten. Dann erschauerte er, das Verlangen nach Aufklärung wich von ihm, und nun sprach er mit einer gewissen Verachtung. »Unsinn. Das gemeine Volk könnt Ihr vielleicht narren, aber ich bin in England erzogen worden und lasse mich nicht von Gerede über verborgene Mächte in die Irre führen.«
»Oh«, sagte Geschichtentauscher. »Ihr seid ein gebildeter Mann.«
»Und Ihr ebenfalls, Eurer Rede nach zu urteilen«, meinte der Prediger. »Aus dem Süden Englands, würde ich sagen.«
»Von der Kunstakademie des Lordprotektors«, erwiderte Geschichtentauscher. »Ich bin als Kunststecher ausgebildet worden. Da Ihr vom Schotäschen Ritus seid, glaube ich, daß Ihr meine Arbeit im Buch Eurer Sonntagsschule gesehen habt.«
»Ich achte nie auf derlei Dinge«, erwiderte der Prediger. »Stiche sind eine Verschwendung von Papier, auf das man besser Worte der Wahrheit drucken sollte. Es sei denn, sie veranschaulichen Dinge, die das Auge des Künstlers tatsächlich geschaut hat, wie beispielsweise die Anatomie. Doch was der Künstler in seiner Vorstellung erschaffen mag, übt keine größere Macht auf mein Auge aus als das, was ich mir selbst vorstelle.«
Geschichtentauscher folgte diesem Gedanken bis zu seiner Wurzel. »Was, wenn der Künstler zugleich ein Prophet wäre?«
Der Prediger schloß die Augen halb. »Die Zeit der Propheten ist vorbei. Wie dieser abtrünnige Heide, dieser einäugige betrunkene Rote Mann am anderen Flußufer, sind alle, die behaupten, Propheten zu sein, heute nur noch Scharlatane. Und ich habe auch keinen Zweifel, daß, wenn Gott auch nur einen Künstler die Gabe der Prophezeiung verliehe, wir schon bald ganze Scharen von Zeichnern und Färbern hätten, die für Propheten gehalten werden wollten, vor allem dann, wenn es ihre Bezahlung erhöhte.«
Geschichtentauscher antwortete milde, doch ließ er den unausgesprochenen Vorwurf des Predigers nicht auf sich beruhen. »Ein Mann, der anderen das Wort Gottes gegen Bezahlung predigt, sollte nicht jene kritisieren, die danach streben, ihren Lebensunterhalt dadurch zu verdienen, indem sie die Wahrheit offenbaren.«
»Ich wurde geweiht«, antwortete der Prediger. »Künstler weiht niemand. Die weihen sich selbst.«
Genau, wie Geschichtentauscher es erwartet hatte. Sobald er befürchtete, daß seine Vorstellungen aus eigener Kraft nicht mehr bestehen konnten, zog sich der Prediger auf Autoritäten zurück. Vernünftige Streitgespräche aber waren unmöglich, wenn Autoritäten zum Schiedsrichter gemacht wurden; Geschichtentauscher kehrte zum wichtigeren Thema zurück. »Der Teufel hat seine Finger auf diesen Altar gelegt«, sagte er. »Ich habe mir den Finger verbrannt, als ich die Stelle berührt habe.«
»Ich habe mir meine Finger nie verbrannt«, meinte der Prediger.
»Das wundert mich nicht«, meinte Geschichtentauscher. »Ihr seid ja auch geweiht worden.«
Geschichtentauscher strengte sich gar nicht erst an, die Verachtung in seinem Tonfall zu verbergen, und das erzürnte den Prediger. Geschichtentauscher machte es jedoch nichts aus, wenn die Leute auf ihn wütend wurden. Es bedeutete, daß sie zuhörten und ihm wenigstens zur Hälfte glaubten. »Wenn Ihr solch scharfe Augen habt, so sagt mir doch eins«, sagte der Prediger. »Sagt mir, ob auch ein Bote Gottes den Altar berührt hat.«
Es war offensichtlich, daß der Prediger diese Frage als Prüfung verstand. Geschichtentauscher hatte keinerlei Vorstellung, welche Antwort der Prediger für die richtige hielt. Aber es spielte auch kaum eine Rolle; Geschichtentauscher würde ehrlich antworten, egal was. »Nein«, erwiderte er.
Es war die falsche Antwort. Der Prediger grinste. »Einfach so? Ihr könnt einfach so sagen, daß er es nicht getan hat?«
Geschichtentauscher überlegte sich einen Augenblick, daß der Prediger vielleicht glauben mochte, daß seine eigenen geweihten Hände die Spuren von Gottes Willen hinterlassen hätten. Diesen Gedanken würde er sofort widerlegen. »Die meisten Prediger hinterlassen keine Lichtspuren auf Gegenständen, die sie berühren. Nur sehr wenige sind jemals heilig genug dafür.«