»Ja, Mama«, antwortete Alvin Junior. »So schnell ich kann.«
»Also gut. Ich danke Euch recht freundlich, Geschichtentauscher. Wenn Ihr diesen Jungen dazu bringen könnt, zu gehorchen, dann ist das mehr, als irgend jemand bisher geschafft hat, seit er das Sprechen gelernt hat.«
»Er ist ein richtiger Lausejunge«, sagte Mary draußen auf dem Gang.
»Halt den Mund, Mary«, sagte Mama, »sonst stopfe ich dir die Unterlippe in die Nase und zwicke sie dort fest, damit er geschlossen bleibt.«
Alvin seufzte erleichtert. Wenn Mama solch widersinnige Drohungen ausstieß, bedeutete das, daß sie nicht mehr wütend war. Mary stolzierte erhobenen Hauptes den Gang entlang, aber Alvin kümmerte sich gar nicht mehr darum. Er grinste einfach nur Geschichtentauscher an, und der alte Mann grinste zurück.
»Hast du Schwierigkeiten, dich für den Kirchgang anzuziehen, Junge?» fragte Geschichtentauscher.
»Lieber würde ich mich mit Talg bekleiden und durch eine Herde hungriger Bären wandern«, meinte Alvin Junior.
»Es überleben aber mehr Menschen den Kirchgang als Begegnungen mit Bären.«
»Aber nicht sehr viel mehr.«
Schon bald war er angezogen. Doch es gelang ihm, Geschichtentauscher dazu zu überreden, den kürzeren Weg zu nehmen, was bedeutete, daß sie durch den Wald über den Hügel hinter dem Haus gehen würden. Da es draußen ziemlich kalt war und eine Weile nicht geregnet hatte, würde es nicht schlammig sein, und Mama würde ihre kleine Abweichung wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Und was Mama nicht wußte, würde ihm nicht weh tun.
»Mir ist aufgefallen«, sagte Geschichtentauscher, als sie den laubbedeckten Anhang emporkletterten, daß dein Vater nicht mit deiner Mutter und Cally und den Mädchen losgegangen ist.«
»Er geht nicht in diese Kirche«, sagte Alvin. »Er meint, Reverend Thrower wäre ein Esel. Natürlich sagt er das nicht, wenn Mama es hören kann.«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, meinte Geschichtentauscher.
Oben auf dem Gipfel des Hügels blieben sie stehen und blickte über Weideland auf die Kirche hinunter. Der Kirchenhügel versperrte den Blick auf die Stadt Vigor Church. Inmitten des herbstlichen braunen Grases wirkte die Kirche wie das weißeste Dinge der Welt. Alvin konnte Wagen sehen, die noch immer in Richtung Kirche fuhren, und Pferde, die gerade auf der Weide an den Pfählen festgemacht wurden.
Wenn sie sich jetzt beeilten, würden sie wahrscheinlich bereits auf ihren Plätzen sitzen, noch bevor Reverend Thrower mit der Hymne begonnen hatte.
Aber Geschichtentauscher begann nicht damit, den Hügel hinunterzugehen. Er setzte sich einfach auf einen Baumstumpf und fing an, ein Gedicht zu rezitieren. Alvin hörte genau zu, weil Geschichtentauschers Gedichte sehr gescheit und lustig waren.
Oh, Geschichtentauscher hatte wirklich ein seltsames Talent, denn noch während er das Gedicht rezitierte, verwandelte sich vor Alvins Augen die ganze Welt. Die Weiden und Bäume sahen aus wie ein einziger Frühlingsruf, von lebhaftem Gelbgrün, mit Zehntausenden von Blüten, und das Weiße der Kapelle in ihrer Mitte leuchtete nicht länger, sondern hatte statt dessen die staubige, kalkige Weißtönung alten Gesteins angenommen. »Zu Fesseln mit dornigen Strängen, all meine Freude und all mein Begehr«, wiederholte Alvin. »Ihr habt wohl nicht viel für Religion übrig;«
»Ich atme die Religion mit jedem Zug«, widersprach Geschichtentauscher. »Ich sehne mich nach Visionen und suche nach den Spuren von Gottes Hand. Doch auf dieser Welt sehe ich mehr Spuren des anderen. Eine Spur aus glitzerndem Schleim, der mich verbrennt, wenn ich ihn berühre. Gott ist dieser Tage ein wenig distanziert, Al Junior, aber Satan fürchtet sich nicht davor, sich zusammen mit der Menschheit im Schlamm zu suhlen.«
»Thrower sagt, seine Kirche ist das Haus Gottes.«
Geschichtentauscher aber saß einfach nur da und sagte ganz lange überhaupt nichts.
Schließlich fragte Alvin ihn geradeheraus: »Habt Ihr in dieser Kirche Teufelsspuren geschaut?«
In den Tagen, da Geschichtentauscher schon bei ihnen gewesen war, hatte Alvin erkannt, daß Geschichtentauscher niemals wirklich log. Aber wenn er nicht auf eine Antwort festgelegt werden wollte, pflegte er ein Gedicht aufzusagen. So verfuhr er auch jetzt.
Alvin hatte keine Geduld mit solch verworrenen Antworten. »Wenn ich etwas hören möchte, was ich nicht verstehen kann, kann ich gleich Isaias lesen.«
»Das ist Musik in meinen Ohren, mein Junge, wenn du mich mit dem größten aller Propheten vergleichst.«
»Kann kein besonders großartiger Prophet sein, wenn kein Mensch ein Wort von dem verstehen kann, was er geschrieben hat.«
»Oder er wollte vielleicht, daß wir alle Propheten werden.«
»Ich habe nicht viel für Propheten übrig«, meint Alvin. »So, wie ich das sehe, sterben sie genauso wie alle anderen auch.«
Das war etwas, was er seinen Vater einmal hatte sagen hören.
»Jeder stirbt irgendwann«, meinte Geschichtentauscher, »aber viele von denen, die gestorben sind, leben in ihren Worten weiter.«
»Worte bleiben nie wirklich«, erwiderte Alvin. »Also wenn ich etwas mache, dann ist es das Ding, das ich gemacht habe. Zum Beispiel, wenn ich einen Korb mache, dann ist das ein Korb. Wenn er zerrissen wird, ist er ein zerrissener Korb. Aber wenn ich Worte sage, dann kann man die völlig verdrehen. Thrower kann dieselben Worte nehmen, die ich gesagt habe, und sie so verdrehen, bis sie das genaue Gegenteil dessen bedeuten, was ich sagte.«
»Sieh es einmal auf andere Weise, Alvin. Wenn du einen Korb herstellst, bleibt es immer nur ein einfacher Korb. Aber wenn du Worte sagst, dann kann man die immer und immer wieder wiederholen, auch tausend Meilen von dem Ort entfernt, wo du sie zum ersten Mal gesagt hast. Worte können die Herzen der Menschen erreichen, aber Dinge sind nie mehr als das, was sie eben sind.«
Alvin hörte dem Geschichtentauscher aufmerksam zu und hatte plötzlich ein seltsames Bild vor Augen: Worte, so unsichtbar wie Luft, die aus Geschichtentauschers Mund kamen und sich von einer Person zur anderen ausbreiteten. Sie wurden immer größer, blieben aber die ganze Zeit unsichtbar.
Dann veränderte sich die Vision plötzlich. Er sah die Worte aus dem Mund des Predigers hervortreten, wie ein Zittern in der Luft, sah sie sich ausbreiten, alles durchdringen — und plötzlich wurde daraus ein Alptraum, der entsetzliche Traum, der ihn heimsuchte, im Wachen oder im Schlafen, und der sein Herz zerdrückte, daß er am liebsten gestorben wäre. Die Welt erfüllte sich mit einem unsichtbaren, bebenden Nichts, das alles durchdrang und auseinanderriß. Alvin konnte es sehen, wie es auf ihn zugerollt kam, wie ein riesiger Ball, der immer größer wurde…
Geschichtentauscher schüttelte ihn, und Alvin öffnete die Augen. Die bebende Luft zog sich allmählich zurück, doch Alvin spürte sie immer noch, ein wenig entfernt, so wachsam wie ein Wiesel, bereit, sofort davonzuflitzen, wenn er den Kopf umwandte.