»Er hat gebetet«, sagte Alvin.
»Ja, das erzählt Thrower uns«, erwiderte Geschichtentauscher scharf. »Aber niemand weiß es wirklich. Und als er am nächsten Tag zu den Truppen sprach, hat er kein Wort übers Beten verloren. Aber er hat tatsächlich über das Wort gesprochen, das Ben Franklin erschuf. Er schrieb einen Brief an den König, in dem er von seinem Kommando zurücktrat und all sein Land und seine Titel aufgab. Er unterzeichnete ihn nicht als ›Lord Potomac‹, er unterzeichnete ihn als ›George Washington‹. Dann stand er am Morgen auf und stellte sich vor die Blauröcke des Königs und sagte ihnen, was er getan hatte und daß es ihre freie Wahl sei, ob sie ihren Offizieren gehorchen und in die Schlacht ziehen oder statt dessen zur Verteidigung von Tom Jeffersons großer Freiheitserklärung losmarschieren wollten. Er sagte: ›Die Wahl liegt bei euch, aber was mich betrifft…‹«
Alvin kannte die Worte, wie sie jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf dem Kontinent kannte. Nun bedeuteten ihm die Worte um so mehr, und er brüllte sie laut hervor: »›Mein amerikanisches Schwert wird niemals einen Tropfen amerikanisches Blut vergießen!‹«
»Und dann, als der größte Teil seiner Armee hingegangen war, um sich den Rebellen von Appalachee anzuschließen, mit ihren Gewehren und ihrem Pulver, ihren Wagen und ihren Vorräten, befahl er dem obersten Offizier der Männer, die dem König treu ergeben geblieben waren, ihn zu verhaften. ›Ich habe meinen Eid auf den König gebrochen‹, sagte er. ›Wohl geschah es um einer höheren Sache willen, dennoch habe ich meinen Eid gebrochen und werde den Preis für meinen Verrat zahlen.‹ Und bezahlt hat er, jawohl, bezahlt mit einer Klinge durch seinen Hals. Doch wie viele Menschen außerhalb des Königshofs glauben, daß es wirklich Verrat gewesen sei?«
»Kein einziger«, erwiderte Alvin.
»Und hat der König seitdem auch nur eine einzige Schlacht gegen die Appalachees schlagen können?«
»Keine einzige.«
»Kein einziger Mann auf jenem Schlachtfeld in Shenandoah war ein Bürger der Vereinigten Staaten. Nicht einer von ihnen lebte unter dem Amerikanischen Pakt. Und doch, als George Washington von amerikanischen Schwertern und amerikanischem Blut sprach, da verstanden die diesen Namen so, daß er sie selbst bezeichnete. Und nun sage mir etwas, Alvin Junior, hatte der Alte Ben etwa unrecht, als er sagte, daß das Größte, was er jemals erschaffen hatte, ein einziges Wort war?«
Alvin hätte geantwortet, doch in diesem Augenblick betraten sie die Veranda des Hauses, und die Tür schwang auf, und Ma stand vor ihnen. Ihre Miene sagte Alvin, daß er in Schwierigkeiten geraten würde, und er wußte auch weshalb.
»Ich wollte wirklich in die Kirche gehen, Ma!«
»Viele tote Leute wollten in den Himmel gehen«, erwiderte sie, »und sind auch nicht dort angekommen.«
»Es war meine Schuld, Goody Faith«, warf Geschichtentauscher ein.
»Das war es ganz bestimmt nicht, Geschichtentauscher«, sagte sie.
»Wir haben uns unterhalten, Goody Faith, und ich fürchte, ich habe den Jungen abgelenkt.«
»Dieser Junge wurde schon abgelenkt geboren«, sagte Ma, ohne den Blick von Alvins Gesicht zu nehmen. »Er schlägt seinem Vater nach. Wenn man ihn nicht anschirrt und sattelt und zur Kirche reitet, kommt er nie dort an, und wenn man seine Füße nicht an den Kirchenboden festnagelt, ist er in der nächsten Minute schon wieder aus der Tür verschwunden. Ein zehnjähriger Junge, der den Herrn haßt, das ist genug, um seine Mutter sich wünschen zu lassen, daß er nie geboren worden wäre.«
Die Worte trafen Alvin Junior mitten ins Herz.
»Das ist ein schrecklicher Wunsch«, sagte Geschichtentauscher. Seine Stimme war ganz leise, und schließlich richtete Ma ihren Blick auf das Gesicht des alten Mannes.
»Ich wünsche es auch nicht«, sagte sie schließlich.
»Es tut mir leid, Mama«, sagte Alvin Junior.
»Kommt herein«, sagte sie. »Ich bin aus der Kirche gegangen, um euch zu suchen, und jetzt ist nicht mehr genug Zeit, um noch vor Ende der Predigt wieder dort zu sein.«
»Wir haben über sehr viele Dinge gesprochen, Mama«, erzählte Alvin. »Über meine Träume und Ben Franklin und…«
»Die einzige Geschichte, die ich von dir hören will«, antwortete Ma, »ist der Klang einer gesungenen Hymne. Wenn du schon nicht in die Kirche gehst, dann wirst du dich in der Küche zu mir setzen und mir Hymnen vorsingen, während ich das Essen mache.«
So bekam Alvin den Satz des Alten Ben in Geschichtentauschers Buch vorläufig nicht zu sehen. Ma ließ ihn bis zum Abendessen singen und arbeiten, und nach dem Essen blieben Pa und die großen Jungen und Geschichtentauscher sitzen, um die morgige Expedition zu planen, mit der sie einen Mühlstein vom Granitberg holen wollten.
»Das tue ich für Euch«, sagte Pa zu Geschichtentauscher, »also solltet Ihr besser mitkommen.«
»Ich habe Euch nie darum gebeten, einen Mühlstein zu beschaffen.«
»Seit Ihr hier seid, ist kein Tag vergangen, da Ihr nicht etwas darüber gesagt hättet, welch eine Schande es doch sei, daß eine solch prächtige Mühle nur als Heuschober dient, wo die Leute hier doch gutes Mehl brauchen.«
»Soweit ich mich erinnern kann, habe ich das nur einmal gesagt.«
»Nun, vielleicht«, erwiderte Pa, »aber jedes Mal, wenn ich Euch erblicke, muß ich an diesen Mühlstein denken.«
»Das liegt ja nur daran, weil Ihr Euch wünscht, daß der Mühlstein dagewesen wäre, als Ihr mich geworfen habt.«
»Das wünscht er sich aber gar nicht!» rief Cally. »Denn dann wärt Ihr jetzt tot!«
Geschichtentauscher grinste nur, und Papa grinste zurück. Schließlich brachten die Frauen die Neffen und Nichten zum Sonntagsessen herüber, und sie ließen sich von Geschichtentauscher so oft das Lachlied vorsingen, bis Alvin schon dachte, daß er einen Schreianfall bekommen würde, wenn er noch einen weiteren Refrain des »Ha, ha, hi» zu hören bekäme.
Erst nach dem Essen, nachdem die Neffen und Nichten alle wieder gegangen waren, holte Geschichtentauscher sein Buch.
»Ich habe mich schon gefragt, ob Ihr dieses Buch jemals öffnen würdet«, bemerkte Pa.
»Habe nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.«
Dann erklärte Geschichtentauscher, wie die Leute darin ihre wichtigste Tat eintrugen.
»Ich hoffe, daß Ihr nicht von mir erwartet, daß ich etwas hineinschreibe«, meinte Pa.
»Oh, ich würde Euch gar nicht hineinschreiben lassen, noch nicht. Ihr habt mir ja noch nicht einmal die Geschichte Eurer wichtigsten Tat erzählt.«
Geschichtentauschers Stimme wurde noch leiser. »Vielleicht habt Ihr Eure wichtigste Tat ja auch noch gar nicht begangen.«
Daraufhin sah Pa ein bißchen wütend aus, vielleicht auch ein wenig verängstigt. »Zeigt mir, was in diesem Buch steht, was andere Leute für so fürchterlich wichtig gehalten haben.«
»Oh«, machte Geschichtentauscher. »Ihr könnt lesen?«
»Ich teile Euch hiermit mit, daß ich in Massachusetts eine Yankee-Ausbildung genossen habe, noch bevor ich heiratete und mich als Müller in West Hampshire niedergelassen habe und lange bevor ich hierher kam. Im Vergleich zu einer Londoner Ausbildung wie Eurer, Geschichtentauscher, mag das nicht viel wert sein, aber Ihr könntet kein Wort schreiben, das ich nicht lesen könnte, es sei denn, es ist auf Lateinisch.«
Geschichtentauscher antwortete nicht. Er öffnete nur das Buch. Pa las den ersten Satz. »Das einzige, was ich wirklich jemals gemacht habe, waren Amerikaner.«
Pa blickte zu Geschichtentauscher empor. »Wer hat das geschrieben?«
»Der alte Ben Franklin.«
»Soviel, wie ich gehört habe, war der einzige Amerikaner, den der jemals gemacht hat, unehelich.«