Geschichtentauscher begann zu reden. Er sprach davon, wie schwer es für Väter sein mußte, mitanzusehen, wie ihre Söhne aufwuchsen, so voller Hoffnung für die Jungen, doch niemals wissend, wann der Tod kommen und das Kind fortholen würde. Es war ein Thema, auf das Alvin Miller nach einigem Zögern einging. Er erzählte die Geschichte von seinem ältesten Jungen Vigor, der im Hatrack River umgekommen war, nur wenige Minuten nach Alvin Juniors Geburt. Und dann kam er auf die vielen Momente zu sprechen, da Al Junior beinahe gestorben wäre. »Immer das Wasser«, sagte Miller zum Schluß. »Es glaubt mir zwar keiner, aber so ist es. Immer das Wasser.«
»Die Frage lautet«, meinte Geschichtentauscher, »ist das Wasser böse, will es einen guten Jungen vernichten? Oder ist es gut und versucht es, eine böse Macht zu vernichten?«
Eine solche Frage hätte viele Männer wütend gemacht, doch Geschichtentauscher hatte es schon lange aufgegeben, zu erraten, wie Miller auf etwas reagieren würde.
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, entgegnete Miller ohne sonderliche Erregung. »Ich habe ihn genau beobachtet, Geschichtentauscher. Natürlich besitzt er ein Talent, die Menschen dazu zu bringen, ihn zu lieben. Sogar seine Schwestern. Seit er alt genug war, um in ihr Essen zu spucken, hat er sie gnadenlos gepeinigt. Und doch gibt es nicht eine von ihnen, der nicht irgend etwas einfiele, um ihm eine besondere Freude zu machen. Sie bringen es zwar fertig, seine Socken zuzunähen oder Ruß auf seinen Stuhl zu schmieren, aber zugleich würden sie für ihn sterben.«
»Ich habe festgestellt«, meinte Geschichtentauscher, »daß manche Leute die Fähigkeit haben, die Liebe anderer zu gewinnen, ohne sie jemals verdient zu haben.«
»Ich habe darüber auch schon nachgedacht«, erwiderte Miller. »Aber der Junge weiß gar nicht, daß er dieses Talent besitzt. Er bringt die Menschen nicht durch Tricks dazu, zu tun, was er will. Er läßt sich von mir bestrafen, wenn er etwas Falsches getan hat. Und wenn er wollte, könnte er mich durchaus daran hindern.«
»Wieso denn?«
»Weil er weiß, daß ich manchmal, wenn ich ihn sehe, in ihm meinen Sohn Vigor erblicke, meinen Erstgeborenen, und dann kann ich ihm nicht weh tun, auch wenn der Schmerz zu seinem Besten wäre.«
Möglich, daß diese Begründung zum Teil der Wahrheit entsprach, überlegte Geschichtentauscher. Aber mit Sicherheit war es nicht die ganze Wahrheit.
Ein wenig später, nachdem Geschichtentauscher das Feuer geschürt hatte, erzählte Miller die Geschichte, deretwegen Geschichtentauscher gekommen war.
»Ich habe eine Geschichte«, sagte er, »die möglicherweise in Euer Buch gehört.«
»Versucht es einmal«, erwiderte Geschichtentauscher.
»Sie ist allerdings nicht mir selbst widerfahren.«
»Es muß etwas sein, das Ihr mit eigenen Augen gesehen habt«, erklärte Geschichtentauscher. »Ich habe schon die verrücktesten Geschichten erzählt bekommen, von denen jemand gehört hat, daß sie dem Freund eines Freundes geschehen seien.«
»Oh, ich habe es durchaus mitangesehen. Es geht jetzt schon ein paar Jahre lang, und ich habe einige Unterhaltungen mit dem Burschen geführt. Die Geschichte dreht sich um einen Schweden flußabwärts. Wir haben ihm dabei geholfen, seine Blockhütte und seine Scheune zu bauen, als er hierherkam, ein Jahr nach uns. Und schon damals habe ich ihn ein wenig beobachtet. Ihr müßt nämlich wissen, daß er einen Jungen hat, einen blonden Schwedenjungen, Ihr wißt schon, wie die manchmal aussehen.«
»Mit fast weißem Haar?«
»Wie Frost in der Morgensonne, so weiß und glänzend.«
»Ich kann ihn im Geiste sehen«, erwiderte Geschichtentauscher.
»Und diesen Jungen hat sein Vater sehr geliebt. Mehr als sein eigenes Leben. Ihr kennt doch diese Bibelgeschichte von dem Vater, der seinem Jungen einen Rock von vielen Farben gab?«
»Man hat sie mir erzählt.«
»So liebte er seinen Jungen. Aber ich habe die beiden den Fluß entlangschreiten sehen, und da ist der Vater ganz plötzlich losgesprungen, hat seinen Jungen gestoßen und ihn in den Wobbish gestürzt. Nun war es so, daß der Junge sich an einem Holzscheit festhielt und sein Vater und ich ihm halfen, wieder an Land zu kommen, aber es war schon beängstigend mitanzusehen, wie der Vater sein eigenes Kind beinahe umgebracht hätte. Sicher, es wäre zwar nicht absichtlich gewesen, aber das hätte den Jungen nicht weniger tot gemacht oder den Vater weniger schuldlos.«
»Ich kann mir vorstellen, daß der Vater so etwas nie verkraftet hätte.«
»Natürlich nicht. Doch nicht lange danach sah ich ihn noch ein paarmal. Wie er Holz hackte und die Axt heftig schwang, und wenn der Junge nicht im selben Augenblick ausgerutscht und hingestürzt wäre, so hätte sich ihm die Axt in den Schädel gebohrt; ich habe noch nie jemanden gesehen, der so etwas überlebt hätte.«
»Ich auch nicht.«
»Und ich habe mir versucht vorzustellen, was da wohl geschah. Was der Vater wohl denken mußte. Also ging ich eines Tages zu ihm und sagte: ›Nels, Ihr solltet etwas vorsichtiger sein, wenn Euer Junge dabei ist. Sonst schlagt Ihr ihm eines Tages noch einmal den Kopf ab.‹
Und Nels hat geantwortet: ›Mr. Miller, das war kein Unfall.‹ Na, in diesem Augenblick hättet Ihr mich mit einem Säuglingsrülpser umhauen können. Was meinte er damit, kein Unfall? Und er sagte zu mir: ›Ihr wißt überhaupt nicht, wie schlimm es ist. Ich denke manchmal, daß eine Hexe mich verflucht hat oder der Teufel mich packt, aber ich arbeite einfach so gut vor mich hin, denke daran, wie sehr ich den Jungen liebe, und plötzlich habe ich den Wunsch, ihn zu töten. Das erste Mal hat es mich überfallen, als er noch ein Säugling war, ich stand oben auf der Treppe, hielt ihn, und plötzlich war eine Stimme in meinem Kopf, die sagte: ›Wirf ihn runter‹, und ich wollte es tun, obwohl ich zugleich wußte, daß es die schrecklichste Tat auf der Welt gewesen wäre. Ich war versessen darauf, ihn hinunterzuwerfen, wie ein Junge, wenn er unbedingt einen Käfer mit einem Stein zerquetschen will.
Nun, ich habe gegen dieses Gefühl angekämpft und habe den Jungen so fest an mich gedrückt, daß ich ihn beinahe erstickt hätte. Und als ich ihn schließlich wieder in seine Wiege zurücklegte, da wußte ich, daß ich ihn von nun an nie wieder diese Treppe hinauftragen würde.
Aber ich konnte ihn doch nicht alleinlassen, nicht wahr? Es war mein Junge, und er wuchs auf und wurde so heiter und ausgelassen, daß ich ihn einfach lieben mußte. Blieb ich weg, so weinte er, weil sein Papa nicht mit ihm spielte. Blieb ich aber bei ihm, so kehrten diese Gefühle zu mir zurück, immer und immer wieder. Zwar nicht jeden Tag, aber an vielen Tagen, manchmal so schnell, daß ich es schon tat, bevor ich überhaupt wußte, was geschah. Wie an dem Tag, als ich ihn in den Fluß gestürzt habe, da bin ich falsch aufgetreten und gestolpert, aber noch während ich diesen Schritt tat, wußte ich, daß er falsch war und daß ich stolpern und gegen ihn stoßen würde, ich wußte es einfach, aber ich hatte keine Zeit mehr, um mich selbst daran zu hindern. Und ich weiß auch, daß ich mich eines Tages nicht mehr im Zaum halten kann, daß ich es gar nicht tun will, aber eines Tages, wenn ich diesen Jungen zwischen den Händen habe, werde ich ihn umbringen.‹«
Geschichtentauscher sah, wie sich Millers Arm bewegte, als wollte er Tränen von seiner Wange fortwischen.
»Ist das nicht seltsam?» fragte Miller. »Daß ein Mann solche Gefühle für seinen eigenen Sohn hegt?«
»Hat dieser Bursche auch noch andere Söhne?«
»Ein paar. Warum?«
»Ich habe mich nur gerade gefragt, ob er auch jemals das Bedürfnis verspürt hatte, die anderen umzubringen.«
»Ich habe ich ihn das auch gefragt, und er meinte, nicht im geringsten.«