David hielt bereits eine Laterne, und als Miller den Jungen davontrug, wies David ihm den Weg. Measure und Calm wollten folgen, doch Geschichtentauscher rief ihnen zu: »Die Frauen werden David und eurem Vater helfen, aber irgend jemand muß noch hier nach dem Rechten sehen.«
»Ihr habt recht«, meinte Calm. »Vater wird sobald nicht zurückkommen.«
Die beiden jungen Männer benutzten die Stangen, um den Stein so weit zu heben, daß Geschichtentauscher den Besenstiel und die Seile hervorziehen konnte, die noch immer an die Pferde angeschirrt waren. Zu dritt räumten sie dann die ganze Ausrüstung aus der Mühle, brachten die Pferde in den Stall und verstauten Werkzeuge und Vorräte. Erst dann kehrte Geschichtentauscher ins Haus zurück, um festzustellen, daß Alvin Junior in seinem Bett schlief.
»Ich hoffe, es macht Euch nichts aus«, sagte Anne besorgt.
»Natürlich nicht«, erwiderte Geschichtentauscher.
Die anderen Mädchen und Cally räumten gerade die Teller vom Abendessen fort. In Geschichtentauschers altem Zimmer saßen Faith und Miller neben dem Bett, beide aschfahl und mit zusammengepreßten Lippen, neben Alvin mit seinem geschienten Bein.
David blieb neben der Tür stehen. »Es war ein sauberer Bruch«, flüsterte er Geschichtentauscher zu. »Aber die Schnitte in der Haut — wir befürchten eine Infektion. Er hat die ganze Haut am vorderen Schienbein verloren. Wir haben sie wieder angenäht so gut es ging. Ich weiß nicht, ob so ein Bruch jemals verheilen kann.«
Faith hob den Kopf. »Versteht Ihr etwas von Heilkunde, Geschichtentauscher?«
»Was ein Mann eben lernt, wenn er versucht zu tun, was er kann, unter jenen, die ebensowenig davon verstehen wie er.«
»Wie konnte das geschehen?» fragte Miller. »Warum ausgerechnet jetzt, wo ihm so oft nichts passiert ist?«
Er blickte zu Geschichtentauscher empor. »Ich hatte zu glauben begonnen, daß der Junge einen Beschützer hat.«
»Den hat er auch.«
»Dann hat der Beschützer ihn im Stich gelassen.«
»Er hat ihn nicht im Stich gelassen«, widersprach Geschichtentauscher. »Einen Augenblick lang, während der Stein stürzte, sah ich, wie er auseinanderbrach, breit genug, um ihn nicht zu berühren.«
»Wie der Dachbalken«, flüsterte Faith.
»Es ist aber kein Riß mehr darin«, meinte Miller.
»Nein«, sagte Geschichtentauscher. »Weil Alvin Junior es ihm verwehrt hat, sich zu spalten.«
»Soll das heißen, daß er ihn wieder zusammengefügt hat? Damit er ihn trifft und sein Bein zerschmettert?«
»Ich will damit sagen, daß er überhaupt nicht an sein Bein gedacht hat«, meinte Geschichtentauscher. »Nur an den Stein.«
»Oh, mein Junge, mein lieber Junge«, murmelte Faith gedankenvoll.
»Ist so etwas möglich?» fragte David. »Daß der Stein auseinanderbrach und wieder ganz wurde, und alles innerhalb von Sekunden?«
»Das muß so sein«, sagte Geschichtentauscher, »denn es ist geschehen.«
Faith beugte sich über ihren Sohn.
»Er ist wach«, sagte sein Vater.
»Ich werde etwas Rum für den Jungen holen«, sagte David. »Um den Schmerz zu lindern. Brustwehr wird welchen im Laden haben.«
»Nein«, murmelte Alvin.
»Der Junge sagt nein«, erklärte Geschichtentauscher.
»Was weiß er schon, da er so unter Schmerz steht?«
»Er muß bei klarem Verstand bleiben, wenn er kann«, erklärte Geschichtentauscher. Er kniete neben dem Bett nieder, direkt rechts neben Faith, so daß er noch näher am Gesicht des Jungen war als sie. »Alvin, kannst du mich verstehen?«
Alvin stöhnte leise.
»Dann hör mir zu. Dein Bein ist sehr schlimm verletzt. Die Knochen sind gebrochen, aber sie sind wieder gerichtet worden — sie werden schon wieder heilen. Doch die Haut ist abgerissen, und obwohl deine Mutter sie wieder genäht hat, besteht die Möglichkeit, daß die Haut absterben und brandig wird, um dich zu töten. Die meisten Ärzte würden dir jetzt das Bein amputieren, um dein Leben zu retten.«
Alvin warf den Kopf vor und zurück und versuchte zu schreien, doch er brachte nur ein Stöhnen heraus: »Nein, nein, nein.«
»Ihr macht die Dinge nur noch schlimmer!» sagte Faith zornig.
Geschichtentauscher blickte den Vater um Erlaubnis an, fortzufahren.
»Quält den Jungen nicht«, sagte Miller.
»Es gibt ein Sprichwort«, sagte Geschichtentauscher. »Der Apfelbaum fragt die Birke nicht, wie er wachsen soll, noch fragt der Löwe das Pferd, wie er seine Beute jagen kann.«
»Was hat das zu bedeuten?» fragte Faith.
»Es bedeutet, daß es mich nichts angeht, zu versuchen, ihm beizubringen, wie er die Kräfte anwenden soll, die ich nicht einmal im Ansatz verstehe. Aber da er selbst nicht weiß, wie er es tun kann, muß ich es doch wohl versuchen, oder nicht?«
Miller überlegte einen Augenblick. »Fahrt fort, Geschichtentauscher. Es ist besser, wenn er erfährt, wie schlimm es steht, ob er sich nun selbst heilen kann oder nicht.«
Geschichtentauscher hielt die Hand des Jungen sanft zwischen seinen eigenen. »Alvin, du möchtest doch dein Bein behalten, nicht wahr? Dann mußt du daran denken, wie du an den Stein gedacht hast. Du mußt an die Haut auf deinem Bein denken, wie sie an den Knochen so anwächst, wie sie soll. Du mußt es dir ausdenken. Du wirst jede Menge Zeit dafür haben, wenn du hier liegst. Denke nicht an den Schmerz, denke an das Bein, wie es sein sollte, nämlich wieder heil und kräftig.«
Alvin lag da und kniff die Augen vor Schmerz zusammen.
»Wirst du das tun, Alvin? Kannst du es versuchen?«
»Nein«, sagte Alvin.
»Du mußt gegen den Schmerz ankämpfen, damit du dein eigenes Talent benutzen kannst, um die Dinge wieder zu richten.«
»Das werde ich niemals tun«, sagte Alvin.
»Warum nicht!» rief Faith.
»Der leuchtende Mann«, sagte Alvin. »Ich habe es ihm versprochen.«
Geschichtentauscher erinnerte sich an Alvins Eid vor dem leuchtenden Mann, und sein Mut sank.
»Wer ist denn der leuchtende Mann?» fragte Miller.
»Eine… Heimsuchung, die er hatte, als er klein war«, erklärte Geschichtentauscher.
»Wie kommt es, daß wir noch nie davon erfahren haben?» wollte Miller wissen.
»Es war in der Nacht, als der Dachbalken brach«, sagte Geschichtentauscher. »Alvin hat dem leuchtenden Mann versprochen, daß er seine Kraft niemals zu seinem eigenen Vorteil anwenden wird.«
»Aber Alvin«, wandte Faith ein, »hier geht es doch nicht darum, daß du reich wirst, sondern darum, dein Leben zu retten.«
Der Junge zuckte nur wieder vor Schmerz und schüttelte den Kopf.
»Würdet Ihr mich mit ihm allein lassen?» fragte Geschichtentauscher. »Nur für ein paar Minuten, damit ich mit ihm reden kann?«
Noch bevor Geschichtentauscher seinen Satz beendet hatte, drängte Miller Faith aus der Zimmertür.
»Alvin«, sagte Geschichtentauscher. »Du weißt, daß ich dich nicht anlügen werde. Ein Eid ist eine schreckliche Sache, und niemals würde ich einem Menschen raten, sein Wort zu brechen, nicht einmal, um sein eigenes Leben retten. Daher werde ich dir auch nicht sagen, daß du deine Macht zu deinem eigenen Guten anwenden sollst. Kannst du mich verstehen?«