»Was denn?» fragte Thrower.
»Das Messer und die Säge«, sagte er.
Thrower sah in sein Taschentuch, das er in der linken Hand hielt. Leer. »So etwas, gerade waren sie doch noch hier drin!«
»Ihr habt sie beim Hineingehen draußen auf den Tisch gelegt«, sagte Measure.
»Ich hole sie«, sagte Goody Faith und eilte aus dem Zimmer.
Sie warteten und warteten und warteten. Schließlich stand Measure auf. »Kann mir gar nicht vorstellen, was sie aufhält.«
Thrower folgte ihm aus dem Zimmer. Sie fanden Goody Faith im großen Raum vor, wie sie zusammen mit den Mädchen Steppkaros nähte.
»Ma«, sagte Measure. »Was ist denn mit der Säge und dem Messer?«
»Ach du liebe Güte«, sagte Faith, »ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist. Ich habe doch glatt vergessen, weshalb ich hierhergekommen bin.«
Sie nahm das Messer und die Säge und marschierte zurück ins Zimmer. Measure zuckte, zu Thrower gewandt, die Schultern und folgte ihr. Jetzt, dachte Thrower. Jetzt werde ich alles tun, was der Herr je von mir erwartete. Der Besucher wird sehen, daß ich meinem Erlöser ein wahrer Freund bin, und mein Platz im Himmel wird mir sicher sein. Nicht wie dieser arme erbärmliche Sünder, den die Flammen der Hölle holen werden.
»Reverend«, sagte Measure. »Was tut Ihr da?«
»Dieses Bild«, sagte Thrower.
»Was ist denn damit?«
Thrower blickte auf das Bild über dem Sims. Es zeigte keine Seele in der Hölle, sondern den ältesten Jungen der Familie, Vigor, wie er im Fluß ertrank. Er hatte diese Geschichte mindestens ein dutzendmal gehört. Doch warum stand er nun hier und schaute das Bild an, da er doch im Nebenraum eine große und schreckliche Mission zu erfüllen hatte?
»Seid Ihr in Ordnung?«
»Vollkommen in Ordnung«, erwiderte Thrower. »Ich bedurfte nur eines Augenblicks stummen Gebetes und der Meditation, bevor ich mich an diese Aufgabe schicke.«
Kühn trat er ins Zimmer und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, auf dem das Satanskind zitternd das Messer erwartete. Thrower blickte sich nach den Werkzeugen des heiligen Mords um. Sie waren nirgendwo zu sehen. »Wo ist das Messer?» fragte er.
Faith sah Measure an. »Hast du die Sachen denn nicht mitgebracht?» fragte sie.
»Du hast sie doch hereingebracht«, erwiderte Measure.
»Aber als du hinausgegangen bist, um den Prediger zu holen, da hast du sie mitgenommen«, sagte sie.
»Habe ich das?«
Measure blickte verwirrt drein. »Dann muß ich sie wohl draußen abgelegt haben.«
Er stand auf und verließ den Raum.
Thrower begann zu erkennen, daß hier etwas Seltsames vorging, obwohl er es nicht genau bestimmen konnte. Er schritt zur Tür und wartete auf Measures Rückkehr.
Dort stand Cally, seine Schiefertafel in der Hand, und sah zu dem Geistlichen empor. »Werdet Ihr meinen Bruder umbringen?» fragte er.
»So etwas solltest du nicht einmal denken«, erwiderte Thrower.
Measure sah verlegen aus, als er Thrower die Instrumente reichte. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß ich sie einfach so auf den Sims gelegt haben soll.«
Dann schob sich der junge Mann an Thrower vorbei ins Zimmer.
Einen Augenblick später folgte Thrower ihm in Alvins Raum und setzte sich neben das enthüllte Bein mit dem daraufgemalten schwarzen Kasten. »Nun, wo habt Ihr sie jetzt hingetan?» fragte Faith.
Thrower merkte, daß er weder das Messer noch die Säge hielt. Er war völlig verwirrt.
Cally stand in der Tür. »Warum habt Ihr mir die Werkzeuge gegeben?» fragte er. Tatsächlich hielt jetzt er die beiden Klingen.
»Das ist eine sehr gute Frage«, sagte Measure und musterte den Pastor mit gerunzelter Stirn. »Warum habt Ihr sie Cally gereicht?«
»Das habe ich gar nicht«, sagte Thrower. »Ihr müßt sie ihm gegeben haben.«
»Ich habe sie Euch direkt in die Hände gelegt«, sagte Measure.
»Der Prediger hat sie mir gegeben«, sagte Cally.
»Nun, dann bring sie her«, sagte schließlich seine Mutter.
Gehorsam schickte er sich an, in den Raum zu treten. Dabei hielt er die Klingen wie Kriegstrophäen. Wie beim Angriff einer großen Armee; ja, eine große Armee, wie die Armee der Irsraeliter, die Josua ins verheißene Land führte. So hielten auch sie ihre Waffen, hoch erhoben über ihren Köpfen, als sie immer und immer wieder um die Stadt Jericho marschierten. Marschierten und marschierten. Und am siebten Tag hielten sie inne und bliesen in ihre Trompeten und stießen einen großen Schrei aus, und da stürzten die Mauern ein, und sie hielten ihre Schwerter und Messer hoch über ihren Köpfen und stürmten die Stadt, hieben auf Männer, Frauen und Kinder ein, allesamt Feinde Gottes, auf daß das verheißene Land von ihrem Schmutz gereinigt würde und bereit wäre, das Volk Gottes aufzunehmen. Am Ende des Tages waren sie blutüberströmt, und Josua stand in ihrer Mitte, der große Prophet Gottes, ein blutiges Schwert über seinem Kopf haltend, und er rief. Was rief er?
Ich kann mich nicht mehr erinnern, was er rief. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte, was er rief, dann wüßte ich auch, warum ich hier auf dem Weg stehe, umgeben von schneebedeckten Bäumen.
Reverend Thrower blickte auf seine Hände und dann auf die Bäume. Er mußte sich eine halbe Meile vom Haus der Millers befinden, und er trug nicht einmal seinen schweren Umhang.
Dann dämmerte ihm die Wahrheit: Satan hatte ihn hierher befördert, in Augenschnelle, anstatt es zuzulassen, daß er das Tier tötete. Thrower hatte versagt, bei seiner einzigen Gelegenheit, Größe zu beweisen. Er lehnte sich gegen einen kalten, schwarzen Baumstamm und weinte bitterlich.
Cally kam ins Zimmer, die beiden Klingen über dem Kopf haltend. Measure wollte gerade das Bein fest packen, als der alte Thrower plötzlich abrupt aufstand und hastig den Raum verließ, als müßte er schleunigst zum Abort.
»Reverend Thrower«, rief Ma. »Wo geht Ihr hin?«
Doch inzwischen hatte Measure begriffen. »Laß ihn gehen, Ma«, sagte er.
Sie hörten, wie sich die Vordertür des Hauses öffnete, dann vernahmen sie die schweren Schritte des Geistlichen auf der Veranda.
»Geh und schließe die Vordertür, Cally«, sagte Measure.
Ausnahmsweise gehorchte Cally ohne Widerrede. Ma blickte Measure an, dann Pa, dann wieder Measure. »Ich verstehe nicht, warum er einfach so gegangen ist«, sagte sie.
Measure gewährte ihr ein leises Halblächeln und sah Pa an. »Aber du weißt es, nicht wahr, Pa?«
»Vielleicht«, sagte er.
Measure erklärte es seiner Mutter. »Diese Messer und der Prediger, die können nicht zur selben Zeit mit Al Junior in diesem Zimmer sein.«
»Aber warum denn nicht?» erwiderte sie. »Er sollte doch die Operation durchführen!«
»Na, das wird er jetzt jedenfalls mit Sicherheit nicht mehr tun«, meinte Measure.
Das Messer und die Knochensäge lagen auf der Decke.
»Pa«, sagte Measure.
»Ich nicht«, sagte Pa.
»Ma«, sagte Measure.
»Ich kann nicht«, sagte Faith.
»Nun denn«, sagte Measure, »schätze, ich bin wohl gerade Arzt geworden.«
Er sah Alvin an.
Das Gesicht des Jungen hatte eine tödliche Blässe, die noch schlimmer war als die Rötung des Fiebers. Doch es gelang ihm ein Lächeln, und er flüsterte: »Schätze schon.«
»Ma, du wirst das Hautstück hochhalten müssen.«
Sie nickte.
Measure nahm das Messer auf und führte die Klinge an die untere Markierung.
»Measure«, flüsterte Al Junior.
»Ja, Alvin?» fragte Measure.
»Ich kann den Schmerz ertragen und ganz stillhalten, wenn du nur pfeifst.«
»Ich kann aber keine Melodie halten, wenn ich zur gleichen Zeit versuche, gerade zu schneiden«, wandte Measure ein.
»Brauche keine Melodie«, sagte Alvin.
Measure sah dem Jungen in die Augen und hatte keine andere Wahl, als zu tun, was er verlangte. Schließlich war es ja Als Bein, und wenn er einen pfeifenden Doktor haben wollte, dann sollte er ihn auch bekommen. Measure atmete tief ein und begann zu pfeifen, keinerlei Melodie, einfach nur Noten. Er legte das Messer wieder an den schwarzen Strich an und begann zu schneiden. Zunächst nur flach, weil er hörte, wie Al die Luft einzog.