Und was sie erblickte, war der Tod am Ende jedes Weges: Wasser, Wasser — jeder Zukunftspfad führte dieses Kind zu einem Tod durch Wasser.
»Warum haßt ihr ihn so!» rief Kleinpeggy.
»Wie?» warf Eleanor ein.
»Still«, sagte Mama. »Laß sie sehen, was sie schaut.«
Im Inneren des ungeborenen Kindes erschien der dunkle Wasserfleck, der sein Herzensfeuer umgab, so entsetzlich stark, daß Kleinpeggy schon fürchtete, daß er davon verschlungen werden würde.
»Holt ihn raus, damit er atmen kann!» rief Kleinpeggy.
Mama griff hinein, auch wenn es die Mutter schrecklich aufriß, packte das Baby mit kräftigen Fingern am Nacken und zog es hervor.
In diesem Augenblick, da die dunklen Wasser im Geist des Kindes sich zurückzogen und kurz vor dem ersten Atemzug, sah Kleinpeggy zehn Millionen Wassertode verschwinden. Nun, zum allerersten Mal, gab es auch einige offene Wege, einige, die in eine prachtvolle Zukunft führten. All die Wege, die nicht in einem frühen Tod endeten, hatten eins gemeinsam: Überall sah sich Kleinpeggy selbst, wie sie etwas ganz Einfaches tat.
Also tat sie es. Sie nahm die Hände von dem erschlaffenden Bauch und duckte sich unter dem Arm der Mutter. Der Kopf des Säuglings trat gerade heraus und noch immer mit einem blutigen Netz bedeckt, ein Fetzen des Sacks aus weicher Haut, in der er im Leib seiner Mutter geschwebt hatte. Sein Mund war offen, saugte die Hauthaube von innen ein, doch sie brach nicht, und er konnte nicht atmen.
Kleinpeggy tat, was sie sich in der Zukunft des Säuglings hatte tun sehen. Sie streckte die Arme vor, nahm das Hautstück unter dem Kinn des Säuglings auf und riß es ihm vom Gesicht. Sobald es fort war, atmete der Junge tief ein und stieß dann jenen ersten Schrei aus, den gebärende Mütter als Gesang des Lebens vernehmen.
Kleinpeggy faltete die Hauthaube zusammen, ihr Geist war noch immer erfüllt von den Visionen, die sie entlang der Pfade des Lebens dieses Säuglings geschaut hatte. Sie wußte noch nicht, was diese Visionen zu bedeuten hatten, doch waren die Bilder in ihrem Geist so klar, daß sie sie niemals vergessen würde. Sie machten sie furchtsam, weil soviel von ihr abhängen würde, und auch davon, wie sie mit der Nachgeburt umging, die immer noch warm in ihren Händen lag.
»Ein Junge«, sagte Mama.
»Ist er einer?» flüsterte die Mutter. »Ein siebenter Sohn?«
Mama band gerade die Nabelschnur ab, so daß sie Kleinpeggy keinen Blick gewähren konnte. »Sieh hin«, flüsterte sie.
Kleinpeggy hielt Ausschau nach dem einzelnen Herzensfeuer im fernen Fluß. »Ja«, sagte sie, denn das Feuer brannte noch immer.
Noch während sie zusah, geriet es ins Flackern und erstarb.
»Jetzt ist er fort«, sagte Kleinpeggy.
Die Frau auf dem Bett weinte bitterlich, ihr von der Geburt gepeinigter Körper zitterte.
»Bei der Geburt des Säuglings zu trauern«, sagte Mama, »ist etwas Schreckliches.«
»Pst!» flüsterte Eleanor ihrer Mutter zu. »Sei fröhlich, sonst wird es dem Baby sein ganzes Leben verfinstern!«
»Vigor«, murmelte die Frau.
»Besser überhaupt nichts als Tränen«, meinte Mama. Sie streckte das schreiende Baby vor, und Eleanor nahm es geschickt in die Arme — es war deutlich zu erkennen, daß sie schon viele Säuglinge gehalten hatte. Mama begab sich zu dem Tisch in der Ecke und nahm das Tuch auf, das in der Wolle geschwärzt worden war, so daß es eine durchgehende Nachtfarbe besaß. Sie zog es langsam über das Gesicht der weinenden Frau und sagte dabei: »Schlaf, Mutter, schlaf.«
Als das Tuch sich von dem Gesicht löste, hatte das Weinen aufgehört, und die Frau war eingeschlafen, am Ende ihrer Kraft.
»Bring das Baby aus dem Zimmer«, sagte Mama.
»Muß er nicht mit dem Säugen anfangen?» fragte Eleanor.
»Sie wird dieses Kind niemals säugen«, sagte Mama. »Es sei denn, du willst, daß er Haß säugt.«
»Sie kann ihn nicht hassen«, meinte Eleanor. »Ist doch nicht seine Schuld.«
»Ich schätze, ihre Milch weiß das aber nicht«, wandte Mama ein. »Stimmt es, Kleinpeggy? Welche Brust saugt das Baby?«
»Die von seiner Mama«, sagte Kleinpeggy.
Mama musterte sie scharf. »Bist du dir da ganz sicher?«
Sie nickte.
»Gut, dann bringen wir das Baby wieder herein, nachdem sie aufgewacht ist. In der ersten Nacht braucht es ohnehin keine Nahrung.«
Also trug Eleanor den Säugling hinaus in das große Zimmer, wo das Feuer brannte, um die Männer zu trocknen, die nun aufhörten, Geschichten über andere, längst vergangene Regengüsse und Fluten zu erzählen, um das Baby anzuschauen und zu bewundern.
Drinnen im Zimmer jedoch nahm Mama Kleinpeggy am Kinn und blickte ihr hart in die Augen. »Sag mir die Wahrheit, Margaret. Es ist eine sehr ernste Sache, wenn ein Baby an seiner Mama säugt und Haß zu trinken bekommt.«
»Sie wird ihn nicht hassen, Mama«, sagte Kleinpeggy.
»Was hast du gesehen?«
Kleinpeggy hätte ihr geantwortet, doch sie kannte für die meisten Dinge, die sie sah, nicht die richtigen Worte. Daher senkte sie den Blick. Mamas schnelles Atmen sagte ihr, daß eine Schimpfkanonade fällig war, doch Mama wartete ab, dann kam ihre Hand, ganz weich, strich über Kleinpeggys Wange. »Ach, Kind, was hast du nur für einen Tag gehabt. Das Baby wäre vielleicht gestorben, hättest du mir nicht geraten, es herauszuziehen. Du hast sogar hineingegriffen und ihm den Mund geöffnet — das hast du getan, nicht wahr?«
Kleinpeggy nickte.
»Genug für ein kleines Mädchen, genug für einen Tag.«
Mama wandte sich den anderen Mädchen zu, die in ihren nassen Kleidern an der Wand lehnten. »Und ihr habt auch genug von diesem Tag. Kommt, laßt eure Mama schlafen, geht hinaus und trocknet euch am Feuer. Ich werde euch ein gutes Abendessen machen.«
Doch Altpapi war bereits emsig in der Küche beschäftigt und weigerte sich zuzulassen, daß Mama auch nur einen Handschlag tat. Schon bald kümmerte sie sich draußen um das Baby, verscheuchte die Männer, damit sie es in Schlaf wiegen konnte, während sie es an ihrem Finger saugen ließ.
Kleinpeggy überlegte sich nach einer Weile, daß man sie nicht mehr vermissen würde, also huschte sie die Stufen hinauf zur Dachstuhlleiter, erklomm die Leiter schließlich, um in den lichtlosen, muffigen Raum zu gelangen. Die Spinnen machten ihr nicht viel aus, und die Katzen hielten die Mäuse fern, so daß sie sich nicht fürchtete. Sie krabbelte sofort zu ihrem Versteck hinüber und holte die geschnitzte Schachtel hervor, die Altpapi ihr gegeben und von der er gesagt hatte, daß sein eigener Papa sie aus Ulster mitgebracht habe, als er in die Kolonien kam. Sie war voll von kostbaren Erinnerungsstücken der Kindheit — Steine, Schnüre, Knöpfe —, doch nun wußte sie, daß all dies nichts war verglichen mit der Arbeit, die vor ihr lag. Sie schüttete alles aus und blies in die Schachtel, um den Staub zu vertreiben. Dann legte sie den zusammengefalteten Mutterkuchen hinein und schloß den Deckel.
Sie wußte, daß sie in der Zukunft diese Schachtel mehr als ein dutzenddutzend Male öffnen würde. Daß sie nach ihr rufen, sie aus dem Schlaf wecken, sie von ihren Freunden fortreißen und ihr alle Träume rauben würde. Und alles wegen eines kleinen Jungen, der nicht die geringste Zukunft hatte, außer dem Tod durch dunkles Wasser, wenn sie nicht diesen Mutterkuchen benutzte, um ihn zu schützen, so wie er ihn einst im Mutterleib geschützt hatte.
Einen Augenblick lang war sie zornig darüber, daß ihr eigenes Leben sich so verändert hatte. Es war schlimmer als das Eintreffen des Hufschmieds, schlimmer als Papa und die Haselgerte, mit der er sie verhaute, schlimmer als Mama, wenn ihre Augen zornig waren. Alles würde ab nun völlig anders sein, nur wegen eines Babys, das sie nie gebeten hatte, hierher zu kommen. Was hatte sie schon mit irgendeinem Baby zu schaffen?