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»Dort wird er Aslan genannt«, antwortete Eustachius.

»Was für ein eigenartiger Name!«

»Der Name ist längst nicht so eigenartig wie Aslan selbst«, erklärte Eustachius feierlich. »Aber komm! Es kann nicht schaden, ihn zu fragen. Wir stellen uns Seite an Seite auf. Und dann strecken wir die Arme nach vorne, mit den Handflächen nach unten: So, wie sie es auf der Insel Ramandus getan haben

»Wessen Insel?«

»Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Und vermutlich sollten wir uns nach Osten wenden. Warte mal, wo ist Osten?«

»Ich weiß nicht«, sagte Jill.

»Es ist komisch, dass die Mädchen nie die Himmelsrichtungen kennen«, stellte Eustachius fest.

»Du kennst sie ja auch nicht«, erwiderte Jill empört.

»Doch, das tue ich – wenn du nur aufhören würdest mich dauernd zu unterbrechen. Jetzt hab ich's. Dort ist Osten, da wo die Lorbeerbüsche stehen. Also, sprichst du mir die Worte nach?«

»Welche Worte?«, fragte Jill.

»Die Worte, die ich dir vorsage, natürlich«, antwortete Eustachius. »Also ...«

Und er begann: »Aslan, Aslan, Aslan!«

»Aslan, Aslan, Aslan«, wiederholte Jill.

»Bitte lass uns beide nach.«

In diesem Augenblick ertönte eine Stimme von der anderen Seite der Turnhalle her. »Jill Pole? Ja. Ich weiß, wo die ist. Sie flennt hinter der Turnhalle. Soll ich sie holen?«

Jill und Eustachius warfen sich einen Blick zu, tauchten unter die Lorbeerbüsche und krochen mit beachtlicher Geschwindigkeit die steile Böschung ins Gebüsch hinauf. (Aufgrund der eigenartigen Lehrmethoden an der Experimentalschule lernte man zwar nicht viel Französisch, Mathematik, Latein und ähnliche Sachen, aber man lernte eine Menge darüber, wie man sich schnell und leise verdrücken konnte, wenn die nach einem suchten.)

Nachdem sie eine Minute lang vorwärts gekrochen waren, hielten sie an und lauschten. An den Geräuschen in ihrem Rücken hörten sie, dass sie verfolgt wurden.

»Wenn nur die Tür offen wäre!«, keuchte Eustachius beim Weiterkriechen und Jill nickte. Denn hinter dem Gebüsch war eine hohe Steinmauer und in dieser Mauer war eine Tür, die auf das offene Moor hinausführte. Diese Tür war fast immer abgeschlossen. Aber einige Male war sie nicht abgeschlossen gewesen – oder vielleicht auch nur ein einziges Mal. Aber ihr könnt euch sicher vorstellen, dass die Erinnerung an dieses eine Mal in den Schülern Hoffnungen erweckte, und sie versuchten die Tür immer wieder. Denn wenn diese Tür offen sein sollte, so war das eine fantastische Möglichkeit, das Schulgelände unbemerkt zu verlassen.

Jill und Eustachius, die von der Herumkriecherei unter dem Lorbeergebüsch inzwischen sehr verschwitzt und schmutzig waren, rannten keuchend zur Mauer. Und da war die Tür und wie immer war sie zu.

»Wir haben bestimmt kein Glück«, sagte Eustachius, die Hand auf der Klinke. Und dann rief er: »Oh! Meine Güte!« Denn die Klinke gab nach und die Tür öffnete sich.

Noch einen Augenblick zuvor hatten beide vorgehabt, wie der Blitz durch die Tür zu verschwinden, falls sie zufällig offen sein sollte. Aber als sie dann tatsächlich aufging, blieben sie beide stocksteif stehen. Denn was sie da sahen, war ganz und gar nicht das, was sie erwartet hatten.

Sie hatten damit gerechnet, vor sich das graue, mit Heidekraut bewachsene Moor zu sehen, das sich bis zum Horizont erstreckte, wo es schließlich mit dem trüben Herbsthimmel verschmolz. Stattdessen herrschte dort draußen strahlender Sonnenschein. Er strömte durch die Tür herein, so wie an einem Junitag das Licht in eine Garage fällt, wenn man das Tor öffnet. Die Tropfen auf dem Gras funkelten plötzlich wie Perlen und man konnte den Schmutz auf Jills verweintem Gesicht sehen. Und das, was die beiden Kinder vor sich erblickten, sah tatsächlich aus wie eine andere Welt. Da gab es weichen Rasen, weicher und leuchtender als alles, was Jill jemals gesehen hatte, und blauen Himmel und in der Luft flatterte es und funkelte, dass man nicht wusste, ob es Juwelen oder riesige Schmetterlinge waren.

Obwohl Jill sich nach so etwas Ähnlichem gesehnt hatte, bekam sie jetzt Angst. Sie warf einen Blick auf das Gesicht von Eustachius und sah, dass es ihm genauso ging.

»Komm, Jill«, sagte er mit atemloser Stimme.

»Können wir auch wieder zurück?«, fragte Jill.

In diesem Moment erklang von hinten eine böse, gehässige Stimme. »Jill Pole! Wir wissen, dass du da oben bist. Komm herunter!« Es war die Stimme von Edith Jackle. Sie gehörte zwar nicht zu denen, aber sie trieb sich mit ihnen herum und trug ihnen alle Neuigkeiten zu.

»Rasch!«, drängte Eustachius. »Hier. Halte meine Hand. Wir dürfen nicht getrennt werden.« Und bevor sie sich richtig darüber im Klaren war, was da passierte, hatte er ihre Hand gepackt und sie durch die Tür gezogen – hinaus aus dem Schulgelände, hinaus aus England, hinaus aus unserer Welt und hinein in diese andere Welt.

Die Stimme von Edith Jackle brach genauso abrupt ab wie eine Stimme im Radio, wenn man es abschaltet. Und im gleichen Augenblick waren sie von einem ganz anderen Geräusch umgeben. Es kam von den funkelnden Geschöpfen über ihnen, die sich jetzt als Vögel entpuppten. Sie machten furchtbar viel Lärm, aber es hörte sich eher an wie Musik – wie ziemlich moderne Musik, die man nicht gleich beim ersten Mal so ganz begreift – und nicht wie Vögelstimmen aus unserer Welt. Und trotz des Gesangs herrschte im Hintergrund eine gewaltige Stille. Diese Stille, in Verbindung mit der Frische der Luft, brachte Jill auf den Gedanken, sie müssten sich auf der Spitze eines sehr hohen Berges befinden.

Eustachius hielt immer noch ihre Hand und so gingen sie weiter, während sie sich nach allen Seiten umschauten. Jill sah, dass überall riesige Bäume wuchsen. Sie sahen aus wie Zedern, waren aber größer. Doch da sie weit voneinander standen und zwischen ihnen kein Unterholz wuchs, konnte man nach links und nach rechts dennoch tief in den Wald hineinsehen. So weit Jills Auge reichte, setzte sich das Bild unverändert fort — ebene Grasflächen, hin und her fliegende Vögel mit gelbem, libellenblauem oder regenbogenfarbenem Gefieder, blaue Schatten und Leere. Kein Windhauch war in dieser kühlen, strahlenden Luft zu spüren. Es war ein sehr einsamer Wald.

Genau vor ihnen war kein Wald: nur blauer Himmel. Sie gingen schweigend geradeaus weiter, bis Eustachius plötzlich »Pass auf!« rief und Jill zurückzog. Sie standen am äußersten Rand eines Felsens.

Jill gehörte zu den Glücklichen, denen auch in großer Höhe nicht schwindlig wird. So machte es ihr überhaupt nichts aus, am Rand eines Abgrunds zu stehen. Sie ärgerte sich ein wenig, weil Eustachius sie zurückzog – »Geradeso, als wäre ich ein kleines Kind!« –, und riss sich los. Als sie sah, wie schrecklich blass er geworden war, sagte sie voller Verachtung: »Was ist denn los?« Und um ihm zu zeigen, dass sie keine Angst hatte, stellte sie sich ganz nah an den Abgrund – einen Schritt näher, als es ihr eigentlich gefiel. Dann schaute sie hinunter.

Jetzt sah sie, dass Eustachius nicht ohne Grund so blass geworden war, denn auf der ganzen Welt gab es keinen Felsen, den man mit dem hier hätte vergleichen können. Stell dir vor, du stündest auf der Spitze des allerhöchsten Felsens, den du kennst. Und stell dir vor, dass du bis zur tiefsten Stelle hinunterschaust. Und dann stell dir vor, der Abgrund wäre noch einmal so tief, zehnmal so tief, zwanzigmal so tief. Und stell dir weiter vor, du würdest ganz da unten weiße Fleckchen sehen, die du auf den ersten Blick vielleicht für Schafe hieltest, bis du dann plötzlich merkst, dass es Wolken sind – keine weißen Nebelfetzen, nein, riesige weiße, bauschige Wolken, so groß wie Berge. Und schließlich würdest du zwischen diesen Wölken den ersten Blick auf den Erdboden erhaschen und der wäre so weit weg, dass man nicht sehen könnte, ob dort Felder oder Wälder, Land oder Wasser ist. Und die Entfernung von den Wolken zum Boden wäre noch größer als zwischen dir und den Wölken.

Jill starrte hinunter. Und dann wäre sie eigentlich gern ein paar Schritte zurückgetreten; aber sie hatte Bedenken, was Eustachius wohl von ihr denken mochte. Dann fasste sie plötzlich den Entschluss, dass es ihr egal war, was er von ihr dachte, dass sie jetzt einfach von diesem schrecklichen Abgrund wegmusste und dass sie nie mehr irgendjemand auslachen würde, der Angst vor großen Höhen hatte. Aber sie stellte plötzlich fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ihre Knie waren ganz weich geworden und alles verschwamm vor ihren Augen.