»Was machst du denn, Jill? Komm zurück – du blöde Kuh!«, rief Eustachius. Aber seine Stimme schien von weit her zu kommen. Jill spürte, wie er nach ihr griff. Aber sie hatte die Herrschaft über ihre Arme und Beine verloren. Einen Augenblick lang rangen sie am Rand des Felsens miteinander. Jill hatte so schreckliche Angst und ihr war so schwindlig, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat. Aber an zwei Dinge erinnerte sie sich für den Rest ihres Lebens (und oft kehrten sie in ihren Träumen zurück). Das eine war, dass sie sich aus Eustachius' Griff losriss, das zweite, dass Eustachius im gleichen Augenblick das Gleichgewicht verlor und mit einem Schrei in die Tiefe stürzte.
Glücklicherweise hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken, was sie getan hatte. Ein riesiges Tier in einer leuchtenden Farbe kam zum Rand des Felsens gerannt. Es legte sich nieder, lehnte sich hinaus und (das war das Komische) – blies. Es brüllte nicht, es schnaubte nicht, nein – mit weit geöffnetem Maul blies es so gleichmäßig, wie ein Staubsauger saugt. Jill lag so nah bei dem Geschöpf, dass sie spürte, wie der Atem gleichmäßig den Körper des Tieres durchströmte und ihn zum Erbeben brachte. Sie lag regungslos da, weil sie nicht aufstehen konnte. Sie war fast ohnmächtig: Tatsächlich wäre sie nur allzu gerne richtig ohnmächtig geworden, doch leider wird man nicht einfach auf Wunsch ohnmächtig. Schließlich sah sie, wie tief unter ihr ein winziger schwarzer Fleck von der Felswand weg und leicht nach oben schwebte. Beim Höhersteigen entfernte er sich. Als er sich fast auf gleicher Höhe mit der Felsenspitze befand, war er schon so weit, dass sie ihn aus den Augen verlor. Offensichtlich bewegte er sich mit großer Geschwindigkeit. Jill wurde den Gedanken nicht los, dass ihn das Geschöpf an ihrer Seite fortblies.
Sie drehte sich um und schaute das Tier an. Es war ein Löwe.
2. Jill wird eine Aufgabe erteilt
Ohne einen Blick auf Jill erhob sich der Löwe und blies ein letztes Mal. Dann, als wäre er mit seiner Arbeit zufrieden, drehte er sich um und tapste langsam zurück in den Wald.
Es muss ein Traum sein, ganz bestimmt, sagte sich Jill. Ich werde jeden Moment aufwachen. Aber es war kein Traum und sie wachte auch nicht auf.
Ich wollte, wir wären nie an diesen schrecklichen Ort gekommen, dachte sie. Ich glaube, Eustachius wusste auch nicht mehr darüber als ich. Und wenn er das tat, dann hätte er mich nie hier herbringen dürfen ohne mich zu warnen. Es war nicht meine Schuld, dass er von dem Felsen gestürzt ist. Hätte er mich in Ruhe gelassen, wäre keinem von uns etwas passiert. Dann fiel ihr wieder der Schrei ein, den Eustachius ausgestoßen hatte, als er abgestürzt war, und sie brach in Tränen aus.
Weinen ist auf seine Art ganz gut, solange es anhält. Aber früher oder später muss man aufhören und dann muss man sich doch entschließen etwas anderes zu tun. Als Jill aufhörte, merkte sie, dass sie schrecklich durstig war. Sie hatte mit dem Gesicht nach unten gelegen und jetzt stand sie auf. Die Vögel hatten aufgehört zu singen und es herrschte vollkommene Stille, abgesehen von einem leisen, beharrlichen Geräusch, das von weit her zu kommen schien. Sie lauschte aufmerksam und war fast sicher, dass es das Geräusch von fließendem Wasser war.
Jill stand auf und sah sich aufmerksam um. Von dem Löwen fehlte jede Spur; aber es gab so viele Bäume und es war durchaus möglich, dass er sich ganz in der Nähe befand und sie ihn nur nicht sah. Vielleicht gab es sogar mehrere Löwen. Aber ihr Durst war inzwischen so schlimm, dass sie ihren ganzen Mut zusammennahm und sich aufmachte das Wasser zu finden. Sie ging auf Zehenspitzen, schlich vorsichtig von Baum zu Baum und blieb nach jedem Schritt stehen um sich umzusehen.
Im Wald war es so still, dass es nicht schwierig war, dem Geräusch nachzugehen. Es wurde immer lauter und früher als erwartet kam sie zu einer Lichtung und sah den Bach, der funkelnd wie Glas kaum einen Steinwurf entfernt die Grasfläche durchschnitt. Aber obwohl sie jetzt, wo sie das Wasser sah, noch zehnmal durstiger war als zuvor, rannte sie nicht darauf zu um zu trinken. Sie stand mit weit geöffnetem Mund so regungslos da, als hätte man sie in Stein verwandelt. Und dafür hatte sie auch guten Grund, denn genau vor ihr am Bach lag der Löwe.
Er hatte den Kopf erhoben und seine beiden Vorderpfoten vor sich gelegt, genau wie die Löwen auf dem Trafalgar Square. Jill wusste, dass er sie gesehen hatte, denn seine Augen schauten einen Augenblick lang geradewegs in die ihren und wandten sich dann ab – so als würde er sie recht gut kennen und nicht sehr viel von ihr halten.
Wenn ich wegrenne, ist er im nächsten Moment hinter mir her, dachte Jill. Und wenn ich weitergehe, renne ich ihm geradewegs in den Rachen. Sowieso hätte sie sich nicht rühren können, selbst wenn sie es versucht hätte. Sie schaffte es auch nicht, die Augen von ihm zu wenden. Sie wusste nicht sicher, wie lange das andauerte, aber es erschien ihr wie Stunden. Und ihr Durst wurde so schlimm, dass es ihr fast schon egal war, ob der Löwe sie fraß, wenn sie nur einen Schluck Wasser bekam.
»Wenn du durstig bist, darfst du trinken.«
Das waren die ersten Worte, die sie hörte, seit Eustachius abgestürzt war. Eine Sekunde lang starrte sie hierhin und dorthin und fragte sich, wer da wohl gesprochen haben mochte. Dann sagte die Stimme noch einmaclass="underline" »Wenn du durstig bist, komm her und trink«, und jetzt erinnerte sie sich, dass Eustachius ihr gesagt hatte, in dieser anderen Welt könnten die Tiere sprechen. Und da wurde ihr klar, dass es der Löwe sein musste, der da sprach. Außerdem hatte sie diesmal gesehen, dass sich seine Lippen bewegt hatten. Auch war die Stimme nicht wie die eines Menschen. Sie war tiefer, wilder und kraftvoller; es war so etwas wie eine schwere, goldene Stimme. Zwar nahm sie ihr nicht die Angst, aber die Angst veränderte sich.
»Bist du nicht durstig?«, fragte der Löwe.
»Ich sterbe vor Durst«, antwortete Jill.
»Dann trink«, sagte der Löwe.
»Darf ich – kann ich – würde es dir etwas ausmachen, so lange wegzugehen?«, fragte Jill.
Der Löwe beantwortete dies lediglich mit einem Blick und einem sehr tiefen Brummen. Und als Jill seinen regungslosen Körper anschaute, wurde ihr klar, dass sie genauso gut den ganzen Berg hätte bitten können zu ihrer Bequemlichkeit beiseite zu rücken.
Das köstliche Plätschern des Baches trieb sie fast zum Wahnsinn.
»Versprichst du, mir nichts zu tun?«, fragte Jill.
»Ich verspreche nichts«, entgegnete der Löwe.
Jill war inzwischen so durstig, dass sie einen Schritt näher gekommen war ohne es zu merken.
»Frisst du Mädchen?«, fragte sie.
»Ich habe Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, Könige und Kaiser, Städte und Länder verschlungen«, sagte der Löwe. Er sagte das nicht so, als wollte er damit angeben, und auch nicht so, als täte es ihm Leid oder als sei er ärgerlich. Er sagte es nur einfach so.
»Ich traue mich nicht«, sagte Jill.
»Dann wirst du verdursten«, entgegnete der Löwe.
»Oje!« Jill kam noch einen Schritt näher. »Dann muss ich mich wohl auf den Weg machen und einen anderen Bach suchen.«
»Es gibt keinen anderen Bach«, sagte der Löwe.
Jill kam nicht auf den Gedanken, die Worte des Löwen anzuzweifeln – niemand, der sein ernstes Gesicht gesehen hatte, tat das –, und so fasste sie plötzlich einen Entschluss. Es war das Schlimmste, was sie jemals hatte tun müssen, aber sie trat vor zum Bach, kniete sich nieder und begann mit der Hand Wasser zu schöpfen. Es war das kälteste und erfrischendste Wasser, das sie je gekostet hatte. Man brauchte nicht viel davon zu trinken, denn es löschte sofort, den Durst. Vor dem Trinken hatte sie vorgehabt sofort wegzurennen, sobald sie getrunken hatte. Jetzt wurde ihr klar, dass dies sicher das Gefährlichste war, was sie tun konnte. Sie stand auf und blieb stehen. Ihre Lippen waren noch feucht vom Wasser.