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»Komm her«, befahl der Löwe. Und sie musste ihm gehorchen. Sie stand jetzt fast zwischen seinen Vorderpfoten und schaute ihm geradewegs ins Gesicht. Doch lange hielt sie das nicht aus. Sie senkte die Augen.

»Menschenkind«, sagte der Löwe, »wo ist der Junge?«

»Er stürzte vom Felsen«, antwortete Jill und fügte hinzu: »Herr.« Sie wusste nicht, wie sie ihn sonst hätte anreden sollen, und es klang unhöflich, gar keine Anrede zu benutzen.

»Wie ist das passiert, Menschenkind?«

»Er hat versucht mich vor dem Hinunterstürzen zu bewahren, Herr.«

»Warum standest du so nah am Rand, Menschenkind?«

»Ich wollte angeben, Herr.«

»Das ist eine sehr gute Antwort, Menschenkind. Tu es nicht wieder. Und nun« – und jetzt wurde das Gesicht des Löwen zum ersten Mal ein wenig weicher – »der Junge ist in Sicherheit. Ich habe ihn nach Narnia geblasen. Aber durch das, was du getan hast, wird deine Aufgabe schwerer werden.«

»Welche Aufgabe bitte, Herr?«, fragte Jill.

»Die Aufgabe, um derentwillen ich dich und ihn aus eurer Welt gerufen habe.«

Das verwirrte Jill sehr. Er muss mich mit jemandem verwechseln, dachte sie. Sie wagte nicht dies dem Löwen zu sagen, obwohl sie das Gefühl hatte, es müsse ein schreckliches Durcheinander geben, falls sie es ihm nicht sagte.

»Sprich aus, was du denkst, Menschenkind«, sagte der Löwe.

»Ich habe überlegt ... ich meine ... liegt da vielleicht ein Irrtum vor? Weißt du, uns hat nämlich keiner gerufen. Wir haben darum gebeten, hierher kommen zu dürfen. Eustachius sagte, wir müssten ... einen Namen rufen – jemand, den ich nicht kannte – und dieser Jemand würde uns vielleicht hierher kommen lassen. Und das taten wir und dann fanden wir die Tür offen.«

»Ihr hättet mich nicht gerufen, wenn ich euch nicht gerufen hätte«, erklärte der Löwe.

»Dann bist du also dieser Jemand, Herr?«, fragte Jill.

»Das bin ich. Und dies ist deine Aufgabe. Weit von hier im Lande Narnia lebt ein betagter König. Er ist traurig, weil es keinen Prinzen seines Blutes gibt, der nach ihm König werden könnte. Er hat keinen Erben, weil ihm sein einziger Sohn vor vielen Jahren geraubt wurde und keiner in Narnia weiß, wo sich dieser Prinz aufhält und ob er noch am Leben ist. Doch das ist er. Ich gebe dir den Auftrag, nach dem verlorenen Prinzen zu suchen, bis du ihn gefunden und zum Haus seines Vaters gebracht hast; oder bis du bei diesem Versuch dein Leben lassen musstest oder in deine eigene Welt zurückgekehrt bist.«

»Wie soll ich vorgehen, bitte?«, fragte Jill.

»Ich werde es dir sagen, Kind«, begann der Löwe. »Dies sind die Zeichen, durch die ich dich bei deiner Suche leiten werde. Erstens: Sobald der Junge namens Eustachius seinen Fuß auf Narnia setzt, wird er einen lieben alten Freund treffen. Diesen Freund muss er sogleich begrüßen; wenn er dies tut, wird euch wertvolle Hilfe zuteil werden. Zweitens: Ihr müsst aus Narnia hinaus nach Norden gehen, bis ihr zur Ruinenstadt der alten Riesen kommt. Drittens: Ihr werdet auf einem Stein der Ruinenstadt Worte geschrieben finden und ihr müsst befolgen, was euch diese Worte auftragen. Viertens: Ihr werdet den verschollenen Prinzen – sofern ihr ihn findet – daran erkennen, dass er die erste Person auf eurer Reise sein wird, die euch bittet, in meinem Namen – im Namen Aslans – etwas Bestimmtes zu tun.«

Da der Löwe geendet zu haben schien, hatte Jill das Gefühl, sie müsse etwas sagen. So sagte sie: »Vielen herzlichen Dank. Ich verstehe.«

»Kind«, erwiderte Aslan mit sanfterer Stimme als bisher, »vielleicht verstehst du nicht so gut, wie du meinst. Aber der erste Schritt ist, dir alles gut zu merken. Wiederhole die vier Zeichen in der richtigen Reihenfolge.«

Jill versuchte es, aber es gelang ihr nicht so recht. Der Löwe korrigierte sie und ließ Jill die Zeichen wieder und wieder aufsagen, bis Jill sie fehlerfrei wiederholen konnte. Er war sehr geduldig und so fasste Jill anschließend den Mut, ihn zu fragen:

»Bitte, wie komme ich nach Narnia?«

»Auf meinem Atem«, sagte der Löwe. »Ich werde dich in den Westen der Welt blasen, so wie ich Eustachius in den Westen geblasen habe.«

»Werde ich ihn rechtzeitig einholen um ihm das erste Zeichen zu nennen? Aber ich nehme an, dass dies nicht so wichtig ist. Wenn er einen alten Freund trifft, wird er doch sicher hingehen und ihn begrüßen, oder nicht?«

»Du hast keine Zeit zu verlieren«, sagte der Löwe. »Deshalb muss ich dich sofort losschicken. Komm. Geh vor mir her zum Rand des Felsens.«

Jill wusste sehr wohl, dass es ihre eigene Schuld war, dass die Zeit drängte. Wenn ich mich nicht so dumm angestellt hätte, würden Eustachius und ich jetzt zusammen gehen. Und er hätte genau wie ich die Anweisungen erhalten, dachte sie. Deshalb tat sie, was man ihr befohlen hatte. Es war sehr beängstigend, zum Felsrand zurückzugehen, vor allem weil der Löwe nicht neben ihr, sondern hinter ihr ging – völlig geräuschlos auf seinen samtenen Pfoten.

Aber lange bevor sie den Rand erreicht hatte, sagte die Stimme hinter ihr: »Steh still. Gleich werde ich blasen. Aber zuerst: Vergiss die Zeichen nicht, vergiss die Zeichen nicht. Sag sie vor dich hin, wenn du am Morgen aufstehst, wenn du dich am Abend niederlegst und wenn du mitten in der Nacht erwachst. Und welch seltsame Dinge dir auch zustoßen mögen – lass dich nicht davon abbringen, den Zeichen zu folgen. Und zweitens will ich dich warnen. Hier auf dem Berg habe ich klar zu dir gesprochen: Das werde ich unten in Narnia nicht oft tun. Hier auf dem Berg ist die Luft klar und klar ist auch dein Geist; weiter unten wird die Luft dicker. Hüte dich davor, dass sie deinen Geist verwirrt. Und die Zeichen, die du hier gelernt hast, werden dort, wenn du ihnen begegnest, ganz und gar nicht so aussehen, wie du erwartet hast. Deshalb ist es so wichtig, sie auswendig zu wissen und auf den äußeren Anschein nicht zu achten. Merke dir die Zeichen und glaube an sie. Alles andere ist unwichtig. Und nun, Tochter Evas, leb wohl ...«

Die Stimme war am Ende immer leiser geworden und jetzt verstummte sie ganz. Jill sah sich um. Zu ihrem Erstaunen lag die Felsspitze schon mehr als hundert Meter hinter ihr und der Löwe war nur noch ein leuchtend goldener Fleck am Felsenrand. Sie hatte in Erwartung eines schrecklichen Atemstoßes des Löwen die Zähne zusammengebissen und die Fäuste geballt; aber in Wirklichkeit war der Atem so sanft gewesen, dass sie nicht einmal gemerkt hatte, wie sie vom Boden abgehoben war. Und jetzt lag unter ihr Tausende und Abertausende Meter weit nichts als Luft.

Sie hatte nur einen Augenblick lang Angst. Zum einen lag die Welt unter ihr so weit weg, dass sie nichts mit ihr zu tun zu haben schien. Und zum anderen war es unbeschreiblich schön, auf dem Atem des Löwen zu schweben. Sie merkte, dass sie auf dem Rücken und auf dem Bauch liegen und sich nach allen Richtungen bewegen konnte, genau wie im Wasser (wenn man gelernt hat, sich auf dem Wasser mühelos treiben zu lassen). Und weil sie sich mit der Geschwindigkeit des Atems bewegte, spürte sie keinen Wind und die Luft war herrlich warm. Es war ganz und gar nicht so wie in einem Flugzeug, denn es gab keinen Lärm und keine Vibrationen. Wenn Jill jemals mit einem Ballon geflogen wäre, so hätte sie es eher damit verglichen; nur war das hier viel schöner.

Als sie jetzt zurückblickte, sah sie zum ersten Mal, wie groß der Berg war, den sie gerade hinter sich ließ. Sie fragte sich, warum so ein riesiger Berg nicht mit Schnee und Eis bedeckt war ... Aber ich nehme an, dass in dieser Welt viele Dinge anders sind, dachte Jill. Dann blickte sie unter sich; aber sie war so hoch oben, dass sie nicht erkennen konnte, ob unter ihr Land oder Wasser lag und mit welcher Geschwindigkeit sie dahinflog.