»Der Löwe selbst hat euch geschickt, wie?«, fragte er. »Und ihr kommt von – hm – von diesem anderen Ort, der hinter dem Ende der Welt liegt, wie?«
»Ja, Herr«, schrie Eustachius in das Hörrohr.
»Ein Sohn Adams und eine Tochter Evas, was?«, meinte der Zwerg. Doch die Kinder in der Experimentalschule kennen Adam und Eva nicht, deshalb wussten Jill und Eustachius darauf keine Antwort. Aber dem Zwerg schien das nicht aufzufallen.
»Nun, meine Lieben«, fuhr er fort, nahm erst das eine Kind und dann das andere an der Hand und neigte den Kopf ein wenig. »Ich heiße euch herzlich willkommen. Wenn der gute König, mein armer Herr, nicht gerade zu den Sieben Inseln aufgebrochen wäre, hätte er sich über eure Ankunft sehr gefreut. Es hätte ihm einen Augenblick lang seine Jugend zurückgebracht – einen Augenblick lang. Und jetzt ist es höchste Zeit für das Abendessen. Ihr müsst mir morgen im Großen Rat von euren Plänen erzählen. Meister Glimmfeder, sorge dafür, dass die Gäste Schlafräume, angemessene Kleidung und alles Übrige erhalten, so wie es ihnen zusteht. Und – Glimmfelder – ich will dir noch etwas ins Ohr flüstern ...»
Der Zwerg legte seinen Mund an den Kopf der Eule und wollte ihr zweifellos etwas zuflüstern: Aber wie das bei schwerhörigen Leuten so ist, konnte er seine eigene Stimme nicht richtig einschätzen und beide Kinder hörten ihn sagen: »Sorge dafür, dass sie ordentlich gewaschen werden!«
Danach trieb der Zwerg seinen Esel an und dieser setzte sich halb trabend, halb watschelnd auf das Schloss zu in Bewegung (es war ein sehr fettes kleines Tier). Der Faun, die Eule und die Kinder folgten etwas langsamer. Die Sonne war untergegangen und es wurde kühl.
Sie gingen über den Rasen und durch einen Obstgarten zum Nordtor von Feeneden, das weit offen stand. Drinnen fanden sie einen grasbewachsenen Schlosshof vor. Schon fiel Licht aus den Fenstern der großen Halle zu ihrer Rechten und aus einer verworrenen Vielzahl von Gebäuden vor ihnen. Dorthinein führte sie die Eule. Ein mädchenhaftes, bezauberndes Geschöpf wurde damit beauftragt, sich um Jill zu kümmern. Sie war kaum größer als Jill selbst, aber viel zierlicher. Doch offensichtlich war sie schon ganz ausgewachsen, war so graziös wie eine Weide und auch ihr Haar war weidenartig und schien mit Moos bewachsen zu sein.
Sie führte Jill in ein rundes Zimmer in einem der Türme. In den Fußboden des Zimmers war eine kleine Badewanne eingelassen und in der ebenerdigen Feuerstelle brannte ein Feuer aus herrlich duftenden Hölzern. Eine Lampe hing an einer silbernen Kette von der gewölbten Decke. Das Fenster blickte nach Westen über das seltsame Land Narnia und hinter den fernen Bergen sah Jill noch das letzte verglühende Rot des Sonnenuntergangs. Sie bekam Sehnsucht nach weiteren Abenteuern und war überzeugt, dass dies erst der Anfang sei.
Nachdem sie gebadet, ihr Haar gebürstet und die Kleider angezogen hatte, die für sie bereitgelegt worden waren – Kleider, die nicht nur schön anzusehen waren, sondern sich auch schön anfühlten und schöne Geräusche machten, wenn man sich darin bewegte –, wollte sie gerade wieder ans Fenster treten und hinaussehen, als es an der Tür klopfte.
»Herein«, sagte Jill. Und da stand Eustachius, ebenfalls gebadet und mit prachtvollen narnianischen Gewändern bekleidet. Aber seinem Gesicht nach zu urteilen, machte ihm das alles nicht sehr viel Spaß.
»Oh, da bist du ja endlich«, sagte er unwirsch und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich suche dich schon eine Ewigkeit.«
»Nun, jetzt hast du mich ja gefunden«, meinte Jill. »Ist das alles nicht furchtbar aufregend und fantastisch?« Sie hatte die Zeichen und den verschollenen Prinzen im Moment völlig vergessen.
»So! Meinst du?«, entgegnete Eustachius. Und dann, nach einer Pause: »Ich wollte, wir wären nie hierher gekommen.«
»Warum denn, um alles in der Welt?«
»Ich kann es nicht ertragen«, erklärte Eustachius, »den König – Kaspian – als alten Tattergreis zu sehen. Es – es ist schrecklich.«
»Wieso, was macht dir das denn aus?«
»Oh, du verstehst nicht. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, wird mir klar, dass du es gar nicht verstehen kannst. Ich habe dir nicht gesagt, dass die Zeit hier anders vergeht als bei uns zu Hause.«
»Wie meinst du das?«
»In der Zeit, die wir hier verbringen, vergeht für uns keine Zeit. Verstehst du? Wie lange auch immer wir hier sein mögen, werden wir doch im gleichen Augenblick wieder in der Experimentalschule sein, in dem wir sie verlassen haben.«
»Wie schade.«
»Ach, sei still! Unterbrich mich nicht immer! Und dort in England – in unserer Welt – weiß man nicht, wie viel Zeit hier vergeht. Vielleicht verstreichen in Narnia viele Jahre, während es für uns zu Hause nur ein Jahr ist. Edmund und Lucy haben mir alles erklärt, aber ich Idiot habe es vergessen. Und jetzt sind also offensichtlich etwa siebzig Jahre – narnianische Jahre – vergangen, seit ich das letzte Mal hier war. Verstehst du jetzt? Und nun, wo ich wieder da bin, ist Kaspian ein uralter Mann.«
»Dann war der König also ein alter Freund von dir?«, fragte Jill. Ein schrecklicher Gedanke war ihr gekommen.
»Das kann man wohl sagen«, antwortete Eustachius unglücklich. »Einen besseren Freund kann man gar nicht haben. Und letztes Mal war er nur ein paar Jahre älter als ich. Diesen alten Mann mit dem weißen Bart zu sehen und mich an den Kaspian von damals zu erinnern, so wie er an dem Morgen aussah, als wir die Einsamen Inseln einnahmen, oder beim Kampf gegen die Seeschlange – oh, es ist schrecklich! Es ist schlimmer, als ihn tot zu finden.«
»Ach, halt den Mund«, sagte Jill ungeduldig. »Es ist viel schlimmer, als du denkst. Wir haben das erste Zeichen verpasst.« Natürlich verstand Eustachius das nicht. Jill erzählte ihm von ihrer Unterhaltung mit Aslan, den vier Zeichen und dem ihnen erteilten Auftrag, den verschollenen Prinzen zu finden.
»Siehst du«, meinte sie dann, »du hast also einen alten Freund gesehen, genau wie Aslan gesagt hat, und du hättest sofort hingehen und ihn begrüßen müssen. Doch du hast es nicht getan, also geht gleich von Anfang an alles schief.«
»Woher hätte ich das denn wissen sollen?«, fragte Eustachius.
»Wenn du mir nur zugehört hättest, als ich es dir sagen wollte, dann wäre jetzt alles gut«, erwiderte Jill.
»Ja, und wenn du nicht am Rand des Felsens verrückt gespielt und mich fast ermordet hättest – ja, ich sagte ermordet und das werde ich sagen, sooft ich will, du brauchst dich also nicht aufzuspielen –, dann wären wir beide zusammen hergekommen und hätten beide gewusst, was zu tun ist.«
»Ich nehme an, er war der erste gute Bekannte, dem du hier begegnet bist?«, sagte Jill. »Du musst ja Stunden vor mir hier gewesen sein. Bist du sicher, dass du vorher niemand anders getroffen hast?«
»Ich war nur etwa eine Minute vor dir da«, meinte Eustachius. »Er muss dich schneller geblasen haben als mich um die Zeit wieder aufzuholen, die du verschwendet hast.«
»Sei nicht so gemein, Eustachius!«, rief Jill. »Oh, was ist das?«
Es war die Schlossglocke, die zum Essen rief, und so wurde das, was aussah, als würde es sich zu einem ausgewachsenen Streit entwickeln, glücklicherweise unterbrochen. Beide hatten in der Zwischenzeit einen Mordshunger.
Das Abendessen in der großen Halle des Schlosses war das Großartigste, was die Kinder je erlebt hatten. Eustachius war ja schon einmal in dieser Welt gewesen, aber damals hatte er die meiste Zeit auf See verbracht und so kannte er die Pracht der narnianischen Haus- und Hofhaltung nicht.
Banner hingen von der Decke und jeder Gang wurde unter einem Tusch von Pauken und Trompeten hereingebracht. Da gab es Suppen, die einem schon das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, wenn man nur an sie dachte, herrliche Fische, Wildbret und Pasteten, Eiskrem, Pudding, Früchte und Nüsse und alle möglichen Weine und Fruchtsäfte. Sogar Eustachius ließ sich aufmuntern und gab zu, dass dies »nicht ohne« sei. Und als alle satt und zufrieden waren, trat ein blinder Poet vor und stimmte die große alte Geschichte vom Prinzen Cor und Aravis und dem Pferd Bree an. Die Geschichte handelt von einem Abenteuer, das sich in Narnia, Kalormen und den Ländern dazwischen begab, und zwar im goldenen Zeitalter, als Peter König in Feeneden war. (Ich habe jetzt keine Zeit, sie zu erzählen, aber es lohnt sich, sie einmal anzuhören.) Als Eustachius und Jill sich, in einem fort gähnend, nach oben ins Bett schleppten, sagte Jilclass="underline" »Ich wette, dass wir heute Nacht gut schlafen werden«, denn es war ein anstrengender Tag gewesen. Was mal wieder beweist, wie wenig man ahnen kann, was einem als Nächstes bevorsteht.