EINS
Reglos starrte der wilde Stier den jungen Ramses an. Ein gewaltiges Tier: die Beine stämmig wie Pfeiler, lange Hängeohren, ein zottiger Bart, braun und schwarz das Fell. Es hatte den jungen Mann gewittert.
Gebannt blickte Ramses auf die Hörner des Stiers, die am Ansatz eng beieinanderstanden, sich dann nach hinten bogen und steil in die Höhe stiegen. Sie endeten in so scharfen Spitzen, daß jeder Gegner Gefahr lief, aufgeschlitzt zu werden.
Noch nie hatte der junge Mann einen so riesigen Stier gesehen.
Dieser hier gehörte zu einer gefürchteten Rasse, der selbst die besten Jäger lieber auswichen; das männliche Tier, das friedlich inmitten seiner Herde lebte, verletzten oder kranken Artgenossen Hilfe leistete, zur Aufzucht der Jungtiere beitrug, wurde, sobald man seine Ruhe störte, zum entsetzenerregenden Krieger. Schon die kleinste Herausforderung machte es rasend, und dann stürmte es los, mit atemberaubender Schnelligkeit, und sein Zorn flaute erst ab, wenn der Gegner zur Strecke gebracht war.
Ramses wich zurück.
Der Schwanz des wilden Stiers peitschte durch die Luft; ein unerbittlicher Blick traf den Eindringling, der sich vorgewagt hatte in sein Reich, die Weideflächen bei dem Sumpf, wo hohes Schilfgras wuchs. Unweit kalbte eine Kuh im schützenden Kreis der Herde. Hier, in den einsamen Gefilden am Ufer des Nils, herrschte das große männliche Tier über seine Herde und duldete keinen Fremden.
Der junge Mann hatte gehofft, die Pflanzen würden ihn tarnen. Doch die tief in den Höhlen liegenden braunen Augen des Stiers ließen nicht ab von ihm. Er würde ihm nicht entkommen, das war Ramses klar.
Vorsichtig wandte er den Kopf seinem Vater zu, kreidebleich.
Sethos, Pharao von Ägypten, den man den »siegreichen Stier« nannte, hielt sich etwa zehn Schritte hinter seinem Sohn. Es hieß, allein seine Anwesenheit lahme seine Gegner. Sein Verstand, scharf wie der Schnabel des Falken, wirke allerorten, und es gebe nichts, was er nicht wisse. Sethos, von schlankem Wuchs, mit strengen Gesichtszügen, hoher Stirn, Habichtsnase und vorspringenden Wangenknochen, war die Verkörperung der Macht. Er war der verehrte und gefürchtete Alleinherrscher, der Ägyptens Ruhm von ehedem zurückerobert hatte.
Der vierzehnjährige Ramses, vom Körperbau her bereits einem Erwachsenen ähnlich, war zum erstenmal mit seinem Vater zusammen.
Im Palast war ihm ein Erzieher zur Seite gestellt, dem es oblag, ihn so zu unterweisen, daß er als Ehrenmann und Sohn des Königs eines Tages in einem hohen Amt ein sorgloses Leben führen könne. Doch heute hatte Sethos ihn völlig unverhofft aus dem Hieroglyphenunterricht geholt und ihn, ohne ein Wort zu sprechen, hierher aufs Land mitgenommen, fernab jeglicher Siedlung.
Als das Schilf zu dicht geworden war, hatten der König und sein Sohn den von zwei Pferden gezogenen Wagen verlassen und waren durch das grüne Dickicht gestapft. Und da diese Hürde nun hinter ihnen lag, befanden sie sich im Reich des Stiers.
Wer von beiden war furchteinflößender, der wilde Stier oder der Pharao? Beide strahlten eine Kraft aus, der Ramses sich nicht gewachsen fühlte. Wurde nicht in allen Erzählungen beteuert, der Stier sei ein himmlisches Wesen, beseelt vom Feuer der anderen Welt, und der Pharao stehe im Bunde mit den Göttern? Obwohl er groß und kräftig war und jede Angst von sich wies, fühlte der Jüngling, daß hier zwei in gewisser Weise übereinstimmende Kräfte auf ihn einwirkten.
»Er hat mich entdeckt«, bekannte er mit betont fester Stimme.
»Um so besser.«
Diese paar Worte, die ersten, die sein Vater sprach, klangen wie eine Verurteilung.
»Er ist gewaltig, er…«
»Und du, wer bist du?«
Die Frage überraschte Ramses. Wütend scharrte der Stier mit dem linken Vorderhuf; Silber- und Graureiher flogen auf, als flüchteten sie vom Schlachtfeld.
»Bist du ein Feigling oder ein Königssohn?«
Sethos’ Blick durchbohrte die Seele.
»Ich kämpfe gern, aber…«
»Ein echter Mann geht bis an die Grenze seiner Kräfte, ein König darüber hinaus; wenn du dazu nicht fähig bist, wirst du nicht regieren, und wir werden uns niemals wiedersehen. Nichts darf dich erschüttern. Kehr um, wenn du es wünschst; andernfalls fang ihn ein.«
Ramses nahm seinen ganzen Mut zusammen, hob den Blick und bot seinem Vater die Stirn.
»Du schickst mich in den Tod.«
»Sei ein mächtiger Stier, von ewiger Jugend, mit starkem Herzen und spitzen Hörnern, den kein Feind je besiegen kann«, sagte mein Vater zu mir; du, Ramses, bist wie ein echter Stier aus dem Leib deiner Mutter gekommen, und du sollst eine funkelnde Sonne werden, die ihre Strahlen aussendet zum Wohl ihres Volkes. Du verbargst dich in meiner Hand wie ein Stern, heute öffne ich die Finger. Glänze oder geh unter.«
Der Stier ließ ein Brüllen hören; das Zwiegespräch der Eindringlinge reizte ihn. Ringsum erstarb jedes Geräusch; jedes Lebewesen, von der Maus bis zum Vogel, verspürte die Bedrohlichkeit dieser Kampfansage.
Ramses nahm sie an.
Im Ringkampf hatte er schon Gegner bezwungen, die schwerer und stärker waren als er. Sein Erzieher hatte ihm die Griffe beigebracht. Aber welches Vorgehen eignete sich bei einem Ungeheuer solcher Ausmaße?
Sethos übergab seinem Sohn ein langes Seil mit einer Schlinge am Ende.
»Seine Kraft ist in seinem Kopf geballt; pack ihn bei den Hörnern, dann bist du Sieger.«
Der junge Mann schöpfte neue Hoffnung; im Seilwerfen war er geübt, denn auf dem See im Palastgarten trieben die Zöglinge allerlei vergnügliche Spiele.
»Sobald er das Zischen deines Fangseils vernimmt, wird er sich auf dich stürzen«, erklärte der Pharao; »verfehle ihn nicht, denn einen zweiten Versuch gestattet er dir nicht.«
Ramses sprach sich innerlich Mut zu, während er seine Wurfbewegung nochmals überdachte. Trotz seines jugendlichen Alters maß er bereits mehr als drei Ellen, und seinen athletischen Körper hatte er in mehreren Sportarten geübt; daher ärgerte ihn diese Kindheitslocke, die in Höhe des Ohrs von einem Band gehalten wurde und Ritualschmuck war, um sein herrliches blondes Haar zu zeigen. Wenn er erst einmal ein Amt bei Hofe innehätte, dann dürfte er endlich eine andere Haartracht tragen.
Aber würde das Schicksal ihm diese Zeit lassen? Gewiß, schon mehrmals und nicht ohne Prahlerei hatte der hitzköpfige junge Mann nach Mutproben verlangt, die seiner würdig wären; doch daß der Pharao persönlich und so unnachsichtig seinen Wünschen entsprechen würde, das hatte er nicht geahnt.
Seit der Stier den Mann gewittert hatte, war er gereizt; lange würde er nicht mehr warten. Ramses straffte das Seil; falls es gelänge, das Tier einzufangen, müßte er kolossale Kräfte aufbieten, um es bewegungsunfähig zu machen. Da er über diese aber noch nicht verfügte, müßte er über sich selbst hinauswachsen, auch wenn ihm das Herz dabei zersprang.
Nein, er würde den Pharao nicht enttäuschen!
Ramses ließ das Seil kreisen; der Stier stürmte los, mit gesenkten Hörnern.
Von der Geschwindigkeit des Tieres überrascht, wich der junge Mann zwei Schritte seitwärts, reckte seinen rechten Arm und schleuderte das Seil, das sich wie eine Schlange ringelte und auf den Rücken des Ungeheuers klatschte. Bei diesem Schwung rutschte Ramses auf dem feuchten Untergrund aus und fiel zu Boden. Schon drohten die Hörner ihn aufzuspießen. Sie streiften seine Brust, doch er hatte die Augen nicht geschlossen.
Er hatte seinem Tod ins Antlitz blicken wollen.
Gereizt stürmte der Stier weiter bis zum Schilf, doch dort drehte er ab, mit einem einzigen Satz; Ramses war aufgestanden und heftete nun seinen Blick auf die Augen des Tieres. Er würde ihm Trotz bieten, bis zum letzten Atemzug, und Sethos beweisen, daß ein Königssohn würdig zu sterben wußte.
Doch blitzartig war der Schwung des Ungeheuers gebrochen: das Seil in des Pharaos festen Händen umschlang seine Hörner. Wutschnaubend schüttelte das Tier den Kopf, bereit, sich das Genick zu brechen, nur um sich zu befreien. Doch vergebens: Sethos nutzte die nun nicht mehr zielgerichtete Kraft des Stiers, um sie gegen ihn zu verwenden.