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Ramses verneigte sich vor seiner Mutter.

»Gibt es eine Anstandsregel, die dir untersagt, mich zu umarmen?«

Er drückte sie an sich. Wie zerbrechlich sie ihm schien!

»Erinnerst du dich an die Sykomore, die du als Dreijähriger pflanztest? Komm, bewundere sie, sie gedeiht prächtig.«

Tuja hatte sehr bald herausgefunden, daß es ihr nicht gelingen würde, den dumpfen Zorn ihres Sohnes zu besänftigen. Dieser Garten, in dem er Stunden mit der Pflege der Bäume verbracht hatte, war ihm fremd geworden.

»Du hast Schweres durchgemacht.«

»Meinst du den wilden Stier oder die Einsamkeit des vergangenen Sommers? Im Grunde ist das unerheblich, da Mut bei Ungerechtigkeit nichts nützt.«

»Hast du Grund zur Klage?«

»Mein Freund Ameni wurde zu Unrecht bezichtigt, einem Vorgesetzten nicht die gebührende Unterwürfigkeit bezeigt und ihm Schimpf angetan zu haben. Aufgrund einer Verfügung meines Bruders wurde er seiner Schreibertätigkeit enthoben und zu Schwerarbeit in den Stallungen verurteilt. Dazu ist er nicht kräftig genug. Diese ungerechte Strafe wird ihn umbringen.«

»Das sind schwere Anschuldigungen, du weißt, daß ich Geschwätz nicht schätze.«

»Ameni hat mich nicht belogen, er ist aufrichtig und edel. Soll er sterben, weil er mein Freund ist und Chenars Hinterlist geweckt hat?«

»Solltest du deinen älteren Bruder hassen?«

»Wir gehen uns aus dem Weg.«

»Er fürchtet dich.«

»Er hat mir wiederholt nahegelegt, Memphis so bald wie möglich zu verlassen.«

»Hast du ihn nicht herausgefordert, indem du dich zum Liebhaber Isets, der Schönen, aufschwangst?«

Ramses konnte sein Erstaunen nicht verbergen.

»Du weißt also…«

»Ist es nicht meine Pflicht?«

»Werde ich denn ständig überwacht?«

»Zum einen bist du ein Königssohn, zum anderen ist Iset, die Schöne, eher geschwätzig.«

»Wieso sollte sie sich rühmen, einem Unterlegenen ihre Unschuld geschenkt zu haben?«

»Vermutlich, weil sie an dich glaubt.«

»Ein Abenteuer, nichts weiter, um meinen Bruder zu reizen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Liebst du sie, Ramses?«

Der junge Mann zögerte.

»Ich liebe ihren Körper, möchte sie wiedersehen, aber…«

»Gedenkst du sie zu heiraten?«

»Sie zu heiraten?!«

»So ist der Lauf der Dinge, mein Sohn.«

»Nein, noch nicht…«

»Iset, die Schöne, ist eine Person, die genau weiß, was sie will. Da sie dich erwählt hat, wird sie so schnell nicht ablassen.«

»Ist mein Bruder denn nicht die bessere Wahl?«

»Ihre Meinung scheint das nicht zu sein.«

»Sofern sie nicht beschlossen hat, uns beide zu verführen!«

»Hältst du eine junge Frau für so gerissen?«

»Wie soll man, nach dem, was Ameni zugestoßen ist, noch irgendeinem Menschen vertrauen?«

»Sollte auch ich deines Vertrauens nicht mehr würdig sein?«

Ramses ergriff die rechte Hand seiner Mutter.

»Ich weiß, du wirst mich nie verleugnen.«

»Was Ameni betrifft, so gibt es eine Lösung, die ihre Vorteile hätte.«

»Welche?«

»Werde königlicher Schreiber, dann kannst du dir deinen Gehilfen wählen.«

Mit einer Zähigkeit, die Ramses Bewunderung entlockte, hielt Ameni trotz der Anstrengungen, die man ihm zumutete, durch. Aus Furcht, der Sohn Sethos’ – wie sie herausgefunden hatten – könne sich erneut einmischen, quälten die Stallburschen ihn nicht mehr. Einer von ihnen, der es bereute, belud die Tragkörbe nicht mehr so übermäßig und reichte dem schwächlichen Jüngling, der trotz allem von Tag zu Tag sichtbarer verfiel, auch schon mal eine helfende Hand.

Als Ramses sich zum Wettbewerb um den königlichen Schreiberposten einfand, war er unvorbereitet. Die Prüfung wurde im Hof neben den Amtsräumen des Wesirs abgehalten. Zimmerleute hatten Holzsäulen errichtet und Stoff darübergespannt, um die Prüflinge vor der Sonne zu schützen.

Hier genoß Ramses keinerlei Vorrechte. Weder sein Vater noch seine Mutter hätten etwas für ihn tun können, denn das hätte bedeutet, das Gesetz der Maat zu mißachten. Ameni hätte sich dieser Prüfung über kurz oder lang unterzogen. Ramses verfügte weder über die Kenntnisse noch das Talent des Freundes. Aber er würde für ihn kämpfen.

Auf einen Stock gestützt, hielt ein alter Schreiber den fünfzig jungen Leuten, die die zwei angebotenen Posten eines königlichen Schreibers zu erlangen hofften, eine Ansprache.

»Ihr habt studiert, um ein Amt zu erlangen, das es euch gestatten soll, eine gewisse Macht auszuüben, aber wißt ihr, wie ihr euch zu benehmen habt? Eure Kleidung sei rein, eure Sandale unbefleckt, eurer Papyrusrolle gelte all eure Sorgfalt, und Müßiggang sei euch fern! Eure Hand schreibe, ohne zu zögern, euer Mund spreche wahrhaftig, lasset nicht ab, weiter und weiter zu studieren, gehorchet den Anweisungen eures Vorgesetzten und übt euren Beruf gewissenhaft und zum Wohle anderer aus: dies sei euer Ideal! Erlegt euch Disziplin auf; ein Affe begreift, was man ihm sagt, ein Löwe läßt sich zähmen, aber ein zerstreuter Schreiber ist das Dümmste auf der Welt. Gegen Müßiggang gibt es nur ein Mitteclass="underline" den Stock! Er öffnet das Ohr, das auf dem Rücken sitzt, und rückt die Gedanken zurecht. Und nun an die Arbeit.«

Die Kandidaten bekamen ein Täfelchen aus Sykomorenholz, das mit einer dünnen Gipsschicht überzogen war und in der Mitte eine Aushöhlung hatte, in der die Schreibbinsen steckten. Jeder träufelte etwas Wasser auf die roten und schwarzen Tintensteine und erflehte durch Ausschütten von ein paar Tropfen die Gunst Imhoteps, des Schutzherrn der Schreiber.

Stunde um Stunde galt es, Inschriften nachzuschreiben, Fragen zu Grammatik und Wortschatz zu beantworten, Aufgaben aus Mathematik und Geometrie zu lösen, einen Brief zu entwerfen, Sprüche der Weisen zu kopieren. Etliche Kandidaten gaben auf, andere vermochten sich nicht weiter zu konzentrieren. Die letzte Prüfungsaufgabe war ein Rätsel.

Ramses stockte: wie konnte der Schreiber Tod in Leben verwandeln? Daß ein Mann der Schrift eine solche Macht haben sollte, konnte er sich nicht vorstellen! Keine befriedigende Antwort fiel ihm ein. Diese Lücke, zusätzlich zu anderen Flüchtigkeitsfehlern, würde seine Aussichten zunichte machen. Er hatte sich unnötig geplagt. Dieses Rätsel vermochte er nicht zu lösen.

Aber selbst wenn er die Prüfung nicht bestand, würde er Ameni nicht fallenlassen. Er würde ihn mitnehmen zu Setaou und den Schlangen, in die Wüste. Es war immer noch besser, jeden Moment den Tod zu gewärtigen, als wie ein Gefangener am Leben zu bleiben.

Ein Pavian kletterte eine Palme herab und spazierte in den Prüfungsraum. Er ließ den Aufsehern keine Zeit, etwas zu unternehmen, und sprang Ramses auf die Schultern. Der verharrte regungslos. Der Affe raunte dem jungen Mann etwas ins Ohr und verschwand, wie er gekommen.

Ein Weilchen waren der Sohn des Königs und das geheiligte Tier des Gottes Thot, des Schöpfers der Hieroglyphen, zu einem Wesen verschmolzen. Ihre Gedanken fügten sich ineinander, der Geist des einen führte die Hand des anderen.

Ramses las die Antwort, die ihm eingeflüstert worden war: Der feine Sandsteinkratzer, mit dem der Schreiber die Gipsschicht ablöst, die er beschrieben hat, um sie durch eine neue zu ersetzen, macht aus dem toten Täfelchen wieder ein lebendiges, weil es nun wie neu und wieder verwendbar ist.

Ameni hatte solche Schmerzen, daß er den Tragekorb nicht mehr hochheben konnte. Seine Knochen schienen zu bersten. Nacken und Hals waren so starr wie ein toter Ast. Selbst unter Schlägen hätte er keine Kraft mehr, noch einen Schritt zu tun. Wie grausam das Schicksal mit ihm umging! Lesen, schreiben, Hieroglyphen zeichnen, die Worte der Weisen in sich aufnehmen, Texte abschreiben, die die menschliche Zivilisation begründet hatten – welch herrliche Zukunft hatte er sich ausgemalt! Ein letztes Mal versuchte er, die Last zu bewegen.