»Ist es noch weit bis zur Höhle?«
»Etwa eine Stunde. Möchtest du lieber umkehren?«
»Vorwärts.«
Nirgends eine Schlange oder ein Skorpion, kein Lebewesen schien in dieser Einöde zu hausen. Sie hatten sich wohl in den Sand eingegraben oder unters Gestein zurückgezogen und würden erst in der Abendkühle hervorkommen.
»Mein linkes Bein schmerzt«, klagte Ramses’ Begleiter, »eine alte Verwundung, die sich bemerkbar macht. Wir sollten lieber rasten und uns etwas Ruhe gönnen.«
Bei Einbruch der Nacht klagte der Mann immer noch über Schmerzen.
»Schlaf«, riet er Ramses, »mich wird der Schmerz wach halten. Wenn mich der Schlaf überkommt, werde ich dich wecken.«
Erst war es wie eine Liebkosung, doch bald schon begann es zu brennen. Die Sonne gewährte der Morgenröte nur einen kurzen Augenblick der Zärtlichkeit. Siegreich war sie aus dem Kampf gegen die Finsternis und den lebenverschlingenden Drachen hervorgegangen, und diesen Sieg stellte sie nun mit solcher Macht zur Schau, daß die Menschen vor ihr Schutz suchen mußten.
Ramses erwachte.
Sein Begleiter war verschwunden. Der Prinz war allein, ohne Wegzehrung und ohne Waffen, etliche Stunden Fußmarsch entfernt von dem Ort, wo die Jäger ausgeschwärmt waren. Unverzüglich machte er sich auf und ging gemessenen Schrittes, um seine Kräfte nicht zu vergeuden.
Der Mann hatte ihn im Stich gelassen, vermutlich in der Hoffnung, daß er diesen Gewaltmarsch nicht überstehen würde. Wem gehorchte er damit, wer hatte ihn angestiftet, ihm eine solche Falle zu stellen, damit ein geplanter Mord als Jagdunfall gemeldet werden konnte? Jeder kannte das Ungestüm des jungen Mannes; war er erst einmal hinter einer Beute her, würde er jegliche Vorsicht vergessen und sich in der Wüste verirren.
Chenar! Das konnte nur Chenar sein, der war so verschlagen und nachtragend! Da sein Bruder sich geweigert hatte, Memphis zu verlassen, schickte er ihn an das Gestade des Todes. Ramses war außer sich vor Zorn, dieses Los würde er nicht hinnehmen! Da er über einen hervorragenden Orientierungssinn verfügte, ging er die ganze Strecke zurück, zielstrebig wie ein Eroberer.
Eine Gazelle floh vor ihm und alsbald ein Steinbock mit zurückgebogenen Hörnern, nachdem er den Eindringling hinreichend beäugt und gemustert hatte. Ließ das Verhalten der Tiere auf eine Wasserstelle schließen, die in der Nähe lag und die sein Begleiter ihm verschwiegen hatte? Entweder verfolgte er den eingeschlagenen Weg und lief Gefahr zu verdursten, oder er vertraute dem Instinkt der Tiere.
Der Prinz entschied sich für die zweite Lösung.
Als er Steinböcke, Gazellen und Antilopen und in der Ferne auch noch eine rund zwanzig Ellen hohe Dattelpalme entdeckte, schwor er sich, nur mehr seinem Gespür zu vertrauen. Den dicht verzweigten Baum mit der grauen Rinde zierten kleine duftende Blüten von gelbgrüner Farbe; er lieferte eine eßbare Frucht von weichem und süßem Fleisch, die, schmal geformt, fingerlang werden konnte und die die Jäger »Wüstenbrot« nannten. Zudem besaß er gefährliche Waffen mit seinen langen, stacheligen Dornen, die an der Spitze hellgrün waren. Der schöne Baum spendete ein wenig Schatten und barg eine dieser geheimnisvollen Quellen, die mit dem Segen des Gottes Seth aus dem Inneren der Wüste hervorsprudeln.
An den Baum gelehnt saß ein Mann und aß Brot.
Ramses trat näher und erkannte in ihm den Anführer der Stallburschen, die Ameni gequält hatten.
»Die Götter seien dir gewogen, mein Prinz. Solltest du dich verirrt haben?«
Ramses, dem die Lippen ausgetrocknet und die Zunge hart geworden waren und dem der Kopf glühte, hatte nur Augen für den Wasserschlauch neben dem linken Bein des struppigen, schlecht rasierten Kerls.
»Solltest du durstig sein? Dann hast du Pech gehabt. Denn wie käme ich dazu, dieses kostbare Wasser an einen Mann zu verschwenden, der dem Tod geweiht ist?«
Der Prinz war nur noch etwa zehn Schritte von seiner Rettung entfernt.
»Du hast mich gedemütigt, weil du Königssohn bist! Seitdem bin ich das Gespött meiner Untergebenen.«
»Laß deine Lügen, wer hat dich bezahlt?«
Der Pferdeknecht grinste.
»Das Nützliche verbindet sich gern mit dem Angenehmen. Als dein Jagdgefährte mir fünf Kühe und zehn Stück Leinen bot, um dich loszuwerden, habe ich sofort zugegriffen. Ich wußte, daß du hierherkommen würdest. Den anderen Weg zurückzugehen, ohne etwas zu trinken, wäre Selbstmord gewesen. Du glaubtest, die Gazellen, die Antilopen und die Steinböcke würden dir das Leben retten, dabei haben sie dich zum Jagdwild gemacht.«
Der Mann stand auf. Er hatte ein Messer in der Hand.
Ramses las in den Gedanken seines Widersachers, daß dieser auf einen Kampf wie neulich gefaßt war, mit Ringergriffen, die adelige Sprößlinge spielerisch lernten. Aber jetzt, hilflos ausgeliefert, erschöpft und durstig, würde der junge Mann der rohen Gewalt kaum mehr etwas entgegenzusetzen haben.
Er konnte sich nur noch selbst als Waffe benutzen.
Mit einem zornigen, kraftvollen Schrei stürzte Ramses sich auf den Stallknecht. Der war so überrumpelt, daß ihm gar keine Zeit blieb, sein Messer zu benutzen. Unter dem Anprall stürzte er nach hinten in die spitzen Dornen der Dattelpalme, die sich ihm wie Dolche ins Fleisch bohrten.
Die Jäger waren recht zufrieden. Sie hatten einen Steinbock, zwei Gazellen und eine Antilope, die sie an den Hörnern hielten, lebend eingefangen. Tätschelte man ihnen den Bauch, ließen sich die Tiere mehr oder weniger willig zum Weitergehen bewegen. Einer der Männer trug ein Gazellenjunges auf dem Rücken, ein anderer hielt einen zappelnden Hasen bei den Ohren. Eine Hyäne war an den Beinen an einem von zwei Helfern gehaltenen Stab festgebunden, ein Hund sprang um sie herum und versuchte erfolglos, sie zu beißen. Diese Tiere würden kundigen Händen übergeben werden, und nachdem man ihr Verhalten studiert hatte, würde man sie zu zähmen versuchen. Obwohl das Überfüttern der Hyänen zur Gewinnung von Stopfleber nur klägliche Ergebnisse gebracht hatte, hielten einige noch daran fest. Ein großer Teil der Jagdbeute würde in die Schlachtkammern der Tempel wandern, zuerst den Göttern dargeboten werden und dann die Menschen nähren.
Alle Jäger waren am Sammelplatz angelangt, nur Prinz Ramses und sein Wagenlenker fehlten. Der für die Expedition verantwortliche Schreiber sorgte sich und befragte einen nach dem anderen, vergebens. Warten war unmöglich, man mußte einen Wagen aussenden, die Verschollenen zu suchen, doch in welche Richtung? Geschah ein Unglück, wäre er verantwortlich und seine Laufbahn blitzartig zu Ende. Wenn Prinz Ramses auch keine großartige Zukunft vor sich hatte, so würde sein Verschwinden doch nicht unbemerkt bleiben.
Er und zwei Jäger würden bis zum späten Nachmittag abwarten, die anderen sollten mit dem Wild ins Tal zurückkehren und einen Trupp Wüstenaufseher losschicken.
Nervös kritzelte der Schreiber einen Bericht auf ein Täfelchen, kratzte in der Gipsschicht herum, begann von neuem und gab auf. Hinter den üblichen Formeln konnte er sich diesmal nicht verstecken. Wie er es auch drehte und wendete, zwei Männer fehlten, und einer von ihnen war der jüngere Sohn des Königs.
Als die Sonne im Zenit stand, glaubte er eine Gestalt wahrzunehmen, die sich im Licht langsam vorwärts bewegte. Doch Trugbilder waren in der Wüste keine Seltenheit, daher fragte der Schreiber die beiden Jäger. Auch sie waren überzeugt, daß da ein menschliches Wesen auf sie zukam.
Schritt um Schritt nahm der Gerettete Gestalt an.
Ramses war der Falle entkommen.
ELF
Chenar überliess sich seinem Hand- und seinem Fußpfleger, die in der Palastschule ausgebildet worden waren und ihr Handwerk bestens verstanden. Der ältere Sohn des Sethos verwandte Sorgfalt auf sein Erscheinungsbild. Da er eine hochgestellte Person war und bald über ein reiches und mächtiges Land herrschen würde, mußte er sich stets von seiner besten Seite zeigen. War feinste Lebensart nicht Kennzeichen einer Kultur, die der Reinlichkeit und der Verschönerung des Körpers höchsten Wert beimaß? Er genoß diese Stunden, da man ihn hegte und pflegte wie eine kostbare Statue, seine Haut mit Essenzen einrieb, bevor der Friseur letzte Hand anlegte.