Sein Entschluß war gefaßt, hier wollte er bleiben, bei den Männern im Steinbruch, er würde die Geheimnisse ihres Berufs erlernen und ihr Leben teilen. Fern der Stadt und ihrem sinnlosen Gepränge würde er all seine Kräfte aufbieten, um den Göttern die geeigneten Sandsteinblöcke auszusuchen.
Das war die Botschaft, die sein Vater ihm übermitteln wollte: er sollte die vergoldete Kindheit vergessen, diese gekünstelte Erziehung, und statt dessen seine wahre Natur entdecken unter der unbarmherzigen Sonne der Steinbrüche. Er hatte sich geirrt, als er glaubte, die Begegnung mit dem wilden Stier eröffne ihm den Weg zum Königtum. Indem er ihm seine wahren Fähigkeiten vor Augen führte, hatte Sethos ihm seine Illusionen genommen.
Ramses verspürte nicht die geringste Lust auf ein Leben als Würdenträger, nur auf Bequemlichkeit und Gewohnheiten ausgerichtet; mit dieser Rolle würde sich Chenar weit besser anfreunden als er. Heiteren Gemüts legte er sich auf das Schiffsdeck, betrachtete verträumt die Sterne und schlief ein.
Eine seltsame Stille herrschte in dem Steinbruch, aus dem tags zuvor zahlreiche Blöcke herausgeholt worden waren. Für gewöhnlich machten sich die Männer bei Tagesanbruch ans Werk, um die morgendliche Kühle zu nutzen. Doch wieso waren die Mannschaftsführer nirgends zu sehen, wieso hatten sie ihre Leute nicht längst zusammengetrommelt?
Dem Zauber des Ortes verfallen, ging der Prinz durch die von Sandsteinfelsen gesäumten Schneisen, in denen völlige Stille herrschte. Sie waren bereits ein Teil von ihm. Kein anderer Horizont würde ihn mit solcher Ruhe erfüllen, und die wollte er genießen, bis der lärmende Gesang der Werkzeuge sie unterbrach.
Ramses schritt durch dieses Labyrinth und orientierte sich an den geritzten Steinzeichen, die jedem Trupp sein Arbeitsgebiet zuwiesen. Es drängte ihn, das königliche Gewand des Schreibers abzulegen, um in Einklang mit seinen Gefährten zu leben, ihre Mühen und Freuden mit ihnen zu teilen und für immer die Pose des adeligen Müßiggängers zu vergessen.
Am äußersten Ende des Steinbruchs entdeckte er einen in den Fels gehauenen kleinen Tempel. Links vom Eingang, vor einer Stele mit einer gemeißelten Huldigung für die aufgehende Sonne, stand Sethos. Mit erhobenen Händen und geöffneten Handflächen zelebrierte er die Wiedergeburt des Lichts, dessen erste Strahlen den Steinbruch zu erhellen begannen.
Ramses kniete nieder und lauschte den Worten seines Vaters.
Als das Gebet beendet war, wandte sich Sethos seinem Sohn zu.
»Was suchst du an diesem Ort?«
»Meinen Lebensweg.«
»Der Schöpfer vollbrachte vier vollkommene Taten«, erklärte der Pharao. »Er gebar die vier Winde, damit jedes Wesen sein Leben lang atmen könne. Er zeugte Wasser und Flut, damit der Arme wie der Mächtige Nutzen daraus ziehe. Er schuf jeden Menschen als Abbild seines Nächsten. Und er prägte dem menschlichen Herzen die Erinnerung an den Westen und das Jenseits ein, damit dem Unsichtbaren geopfert werde. Aber die Menschen übertraten das Gebot des Schöpfers und hatten nichts anderes im Sinn, als sein Werk zu zerstören. Gehörst auch du zu dieser Meute?«
»Ich… ich habe einen Mann getötet.«
»Ist Zerstören der Sinn deines Lebens?«
»Ich habe mich verteidigt, eine Kraft lenkte mich!«
»In diesem Fall bekenne dich zu deiner Tat und jammere nicht.«
»Ich will den wahren Schuldigen finden.«
»Verlier dich nicht in Grübeleien; bist du bereit, dem Unsichtbaren zu opfern?«
Der Prinz nickte.
Sethos trat ins Innere des Tempels und trug, als er herauskam, einen goldgelben Hund auf dem Arm. Der Prinz lächelte verklärt.
»Wächter!«
»Er ist doch dein Hund?«
»Ja, aber…«
»Nimm einen Stein, zertrümmere ihm den Kopf und opfere ihn dem Geist dieses Steinbruchs; so wirst du gereinigt von deiner Gewalttätigkeit.«
Der Pharao ließ das Tier los, das auf seinen Herrn zustürzte und das Wiedersehen mit fröhlichen Sprüngen feierte.
»Vater…«
»Handle.«
Wächters Augen baten um Liebkosungen und Zärtlichkeit.
»Ich weigere mich.«
»Bist du dir bewußt, was deine Antwort bedeutet?«
»Ich möchte in die Zunft der Steinhauer eintreten und niemals mehr in den Palast zurückkehren.«
»Solltest du wegen eines Hundes auf deinen Stand verzichten?«
»Er hat mir sein Vertrauen geschenkt, ich schulde ihm Schutz.«
»Folge mir.«
Auf einem schmalen Pfad stiegen Sethos, Ramses und Wächter den Hügel hinauf bis zu einer Felsnase hoch über dem Steinbruch.
»Hättest du deinen Hund gemordet, wärst du der jämmerlichste aller Zerstörer gewesen. Durch dein Verhalten hast du eine weitere Stufe erklommen.«
Ramses war außer sich vor Freude.
»Hier werde ich beweisen, was ich wert bin!«
»Du irrst.«
»Ich bin fähig, hart zu arbeiten!«
»Steinbrüche wie dieser verleihen unserer Zivilisation Bestand. Ein König muß sie häufig aufsuchen, sich vergewissern, daß Steinhauer und Steinmetze das Werk gemäß der Regel fortführen, damit die Behausungen der Gottheiten verschönert werden und sie auf Erden verweilen. Im Umgang mit Männern des Handwerks bildet sich das Verständnis fürs Regieren heraus. Stein und Holz lügen nicht. Der Pharao wurde von Ägypten erschaffen, der Pharao erbaut Ägypten; er baut und baut weiter, denn den Tempel zu erbauen ist die edelste Tat der Liebe.«
Jedes Wort Sethos’ war ein funkelndes Licht, das Ramses’ Horizont erweiterte, und er labte sich daran wie ein Reisender, der seinen Durst an einer Quelle frischen Wassers stillt.
»Dann ist dies hier mein Platz.«
»Nein, mein Sohn, Gebel Silsileh ist nur ein Sandsteinbruch. Granit, Alabaster, Kalkstein, anderes Gestein und andere Baustoffe fordern deine Anwesenheit. Du darfst dich in keinen Unterschlupf flüchten, auch nicht in eine Zunft. Es ist Zeit, wieder gen Norden zu fahren.«
DREIZEHN
In der weiträumigen Schreibstube, die ihm zur Verfügung stand, ordnete Ameni die Aufzeichnungen über die erhaltenen Auskünfte. Nachdem er hier und da geschnüffelt und eine Vielzahl kleiner, mehr oder minder redseliger Beamter befragt hatte, freute er sich jetzt an den zusammengetragenen Ergebnissen. Sein Spürhundinstinkt sagte ihm, daß die Wahrheit in Reichweite lag. Daß Betrug vorlag, daran bestand kein Zweifel. Doch wer strich den Ertrag der Unterschlagungen ein? Bekäme er einen Beweis in die Hände, würde er nicht lockerlassen und den Schuldigen seiner Strafe zuführen.
Während er zu wiederholtem Male die Holztäfelchen las, erschien Iset, die Schöne, im Türrahmen.
Verlegen erhob sich Ameni. Wie verhielt man sich vor diesem Holzen jungen Mädchen?
»Wo ist Ramses?« fragte sie angriffslustig.
»Ich weiß es nicht.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Es ist die Wahrheit.«
»Es heißt, Ramses habe keinerlei Geheimnis vor dir.«
»Wir sind Freunde, aber er hat Memphis verlassen, ohne mich zu verständigen.«
»Unmöglich!«
»Selbst aus Gefälligkeit würde ich nicht lügen.«
»Du scheinst nicht besorgt.«
»Warum sollte ich?«
»Du weißt, wo er ist, und weigerst dich, es mir zu sagen!«
»Diese Beschuldigung trifft mich zu Unrecht.«
»Ohne ihn genießt du keinerlei Schutz.«
»Ramses wird zurückkommen, darauf können wir uns verlassen. Wäre ihm ein Unglück zugestoßen, hätte ich es gespürt. Zwischen ihm und mir bestehen unsichtbare Bande, daher bin ich nicht besorgt.«
»Du willst mich zum Narren halten!«
»Er wird zurückkommen.«
Bei Hof gingen Gerüchte um. Die einen behaupteten, Sethos habe Ramses in den Süden verbannt, andere sprachen von einem Auftrag, der darin bestand, den Zustand der Deiche vor der nächsten Flut zu überprüfen. Iset, die Schöne, kochte vor Zorn. Ihr Geliebter hatte sie lächerlich gemacht, sie verhöhnt! Als sie die Schilfhütte, wo sie ihn treffen sollte, leer fand, hatte sie zunächst an einen Scherz geglaubt und überall vergeblich nach Ramses gerufen. Und plötzlich war ihr, als kämen aus allen Ecken und Enden Kröten, Schlangen und streunende Hunde herbei, und sie war geflohen, von Angst gejagt.