FÜNFZEHN
Das schiff des pharaos fuhr gen Norden. Von Memphis aus war es der Strömung des Nils gefolgt, bevor es in einen der Seitenarme einbog, die tief hinein ins Delta führten.
Ramses war wie geblendet.
In dieser Landschaft, über die der Gott Horus herrschte, gab es keine Wüste, und das Wasser war allmächtig. Im Tal des Seth hingegen mußte der Fluß sich zwischen zwei Ufern, die ständig gegen die Trockenheit ankämpften, seinen Weg bahnen. Der ungezähmte Teil des Deltas glich einem riesigen Sumpfgebiet, wo Tausende von Vögeln und Fischen lebten und dichte Papyruswälder standen. Nirgendwo eine Stadt, nicht einmal eine Ansiedlung, nur ein paar Fischerhütten auf umspülten Kuppen. Auch das Licht verharrte nicht bewegungslos wie im Tal. Der Wind, der vom Meer kam, ließ die Schilfrohre tanzen.
Schwarze Flamingos, Enten, Reiher und allerlei Pelikane teilten sich dieses riesige Reich mit all den Wasserarmen. Hier verschlang eine Schleichkatze die Eier aus einem Eisvogelnest, dort wand sich eine Schlange durch ein Dickicht, über dem bunte Schmetterlinge flatterten. Dieses Reich hatte der Mensch noch nicht erobert.
Das Schiff fuhr nun langsamer, der Kapitän hatte Erfahrung mit den Launen dieses Labyrinths und ließ Vorsicht walten. Etwa zwanzig erprobte Seeleute waren an Bord, und vorn im Bug stand der Herr dieses Landes. Sein Sohn beobachtete ihn unbemerkt, fasziniert von der Erhabenheit des Vaters. Sethos verkörperte Ägypten, er war Ägypten, Erbe einer Ahnenreihe, die über Jahrtausende das Wissen um die göttliche Größe und die menschliche Nichtigkeit hochgehalten hatte. In den Augen seines Volkes war der Pharao seit ehedem ein geheimnisvolles Wesen, dessen eigentliche Heimstatt der bestirnte Himmel war. Seine Anwesenheit auf Erden bezeugte die Verbindung mit dem Jenseits, des Pharaos Blick öffnete seinem Volk die Tore dorthin. Ohne ihn hätte die Barbarei schnell beide Ufer erobert, mit ihm versprach die Zukunft Ewigkeit zu werden.
Obgleich er das Ziel nicht kannte, schrieb Ramses auch den Bericht über diese Expedition. Weder sein Vater noch die Mannschaft waren auskunftsbereit gewesen. Der Prinz verspürte eine innere Unruhe, als drohte dem Schiff Gefahr. Jeden Augenblick konnte ein Ungeheuer auftauchen und die Barke verschlingen.
Wie schon bei der ersten Reise hatte Sethos auch diesmal seinem Sohn nicht die Zeit gelassen, Iset und Ameni zu verständigen. Den Zorn der Geliebten und die Unruhe des Freundes konnte Ramses sich gut vorstellen, aber weder Liebe noch Freundschaft hätte ihn davon abhalten können, seinem Vater dorthin zu folgen, wohin er ihn mitzunehmen bereit war.
Eine Fahrrinne zeichnete sich ab, nun kam man leichter voran, und schon bald legte das Schiff an einem grasbewachsenen Inselchen an, auf dem ein merkwürdiger hölzerner Turm stand. Mit Hilfe einer Strickleiter ging der König von Bord, Ramses tat es ihm nach. Der Pharao und sein Sohn erklommen die Spitze des von einer Einfriedung aus Holz und Buschwerk getarnten Turmes. Von dort oben sah man nur den Himmel.
Sethos war so in Gedanken vertieft, daß Ramses ihm keine Frage zu stellen wagte.
Plötzlich belebte sich der Blick des Pharaos.
»Schau, Ramses, sieh genau hin!«
Hoch oben am Himmel, wo der Azur die Sonne zu berühren schien, flog ein Schwarm Zugvögel gen Süden, es sah aus wie ein großes V.
»Sie kommen von jenseits aller bekannten Welten«, erklärte Sethos, »aus grenzenlosen Weiten, wo die Götter unermüdlich Leben schaffen. Verweilen sie im Ozean der Tatkraft, haben sie die Form von Vögeln mit Menschenkopf und nähren sich vom Licht. Überfliegen sie die Grenzen der Erde, nehmen sie die Gestalt einer Schwalbe oder eines anderen Zugvogels an. Vergiß nie, sie zu betrachten. Sie sind unsere zu neuem Leben erweckten Ahnen, die sich bei der Sonne für uns verwenden, damit ihr Feuer uns nicht zerstört. Sie sind es, die dem Pharao seine Gedanken eingeben und ihm einen Weg weisen, den Menschenaugen nicht sehen.«
Als die Nacht hereingebrochen war und die Sterne funkelten, erklärte Sethos seinem Sohn den Himmel. Er lehrte ihn die Namen der Sternbilder, die Bewegung der unermüdlichen Planeten Sonne und Mond und die Bedeutung der Dekansterne. Mußte der Pharao seine Macht nicht bis zu den Grenzen der Welt ausdehnen, so daß sein Arm von keinem Land zurückgestoßen wurde?
Ramses lauschte mit offenen Ohren und geöffnetem Herzen. Er nahm diese Nahrung in sich auf und ließ nichts unbeachtet. Zu früh kam der Morgen.
Das Pflanzendickicht nahm überhand, das königliche Schiff konnte nicht mehr weiter. Sethos, Ramses und vier Seeleute bewaffneten sich mit Lanzen, Bogen und Wurfhölzern und stiegen in eine leichte Papyrusbarke. Der Pharao wies den Ruderern die Richtung.
Ramses fühlte sich in eine andere Welt versetzt, die nichts gemeinsam hatte mit dem Tal. Hier war keine Spur menschlichen Wirkens zu erkennen. Die mehr als vier Mann hohen Papyrusstauden verstellten manchmal sogar den Blick auf die Sonne. Hätte er seine Haut nicht mit einer dicken Schicht fetter Salbe eingerieben, wäre der Prinz aufgefressen worden von Tausenden von Insekten, die hier herumschwärmten und einen ohrenbetäubenden Lärm machten.
Nachdem es einen Wald von Wasserpflanzen hinter sich gebracht hatte, glitt das Boot in eine Art See, in dessen Mitte zwei Inselchen thronten.
»Die heiligen Städte Pe und Dep«, erklärte der Pharao.
»Städte?« fragte Ramses verwundert.
»Sie sind für die Seelen der Gerechten bestimmt. Ihr Fürstentum ist die gesamte Natur. Als das Leben dem Urozean entsprang, nahm es die Gestalt eines aus den Wassern emporsteigenden Erdhügels an. Diese zwei heiligen Erdhügel, die in deinem Geist vereint ein einziges Land bilden, sind Orte, wo die Götter sich gerne aufhalten.«
In Begleitung seines Vaters setzte Ramses seinen Fuß auf den Boden der heiligen Städte und verharrte andächtig vor einem Heiligtum. Es war eine einfache Schilfhütte, vor der ein Stab mit spiralenförmiger Spitze in den Boden gerammt war.
»Dies ist das Sinnbild des Amtes«, erklärte der König; »jeder muß das seine finden und es ausfüllen, bevor er sich um die eigene Person kümmert. Das des Pharaos besteht darin, der erste Diener der Götter zu sein. Allein auf sich selbst bedacht, wäre er nur ein Tyrann.«
Ringsum verspürte Ramses unzählige beunruhigende Kräfte. Es war unmöglich, Frieden zu finden in diesem Chaos, wo man ständig in wachsamer Spannung blieb. Nur Sethos schien gegen jede Erregung gefeit, als beuge sich auch diese unentwirrbare Natur seinem Willen. Wäre da nicht diese ruhige Gewißheit in seinem Blick, hätte Ramses mit Sicherheit angenommen, daß sie niemals mehr herausfinden würden aus diesem riesenhaften Papyruswald.
Plötzlich weitete sich der Horizont, die Barke glitt in grünliches Gewässer, das ein Ufer umspülte, auf dem Fischer lebten. Nackt und struppig hausten sie in notdürftigen Hütten, arbeiteten mit Netz, Angel und Reuse, schlitzten die Fische mit langen Messern auf, nahmen sie aus und ließen sie in der Sonne trocknen. Zwei von ihnen trugen einen Nilbarsch, der so riesig war, daß der Stab, an den sie ihn gebunden hatten, sich durchbog.
Vom unerwarteten Besuch überrascht, zeigten sich die Fischer verängstigt und abweisend. Sie drängten sich aneinander und hielten ihre Messer hoch.
Ramses trat vor. Feindselige Blicke trafen ihn.
»Verneigt euch vor dem Pharao.«
Die erhobenen Messer fielen zu Boden, und Sethos’ Untertanen sanken vor ihrem Herrscher nieder und luden ihn dann ein, ihr Mahl zu teilen.
Die Fischer scherzten mit den Soldaten, und diese schenkten ihnen zwei Krüge Bier. Als der Schlaf sie überkam, wandte Sethos sich im Schein der Fackeln, deren Flammen Insekten und wilde Tiere fernhielten, nochmals an seinen Sohn.
»Hier siehst du die Ärmsten der Armen, doch sie erfüllen ihr Amt und bauen auf deine Hilfe. Der Pharao ist der, der den Schwachen beisteht, die Witwen beschützt, die Waisen speist, den Bedürftigen hilft. Er ist der tapfere Hirte, der Tag und Nacht wacht, der Schutzschild für sein Volk. Derjenige, den Gott erwählt, damit er das höchste Amt erfüllt und man von ihm sagen kann: ‹Keiner litt Hunger zu seiner Zeit.› Es gibt keine edlere Aufgabe, mein Sohn, als Ka von Ägypten zu werden, Geber für das ganze Land.«