Ramses blieb mehrere Wochen bei den Fischern und den Papyrussammlern. Er lernte die zahlreichen Arten der eßbaren Fische kennen und leichte Barken herzustellen, er entwickelte seinen Jagdinstinkt, verirrte sich im Labyrinth der Kanäle und Sümpfe, fand ohne Hilfe wieder heraus und lauschte dem Bericht der kraftstrotzenden Fischer, die nach stundenlangem Kampf riesige Fische an Land gezogen hatten.
Trotz ihrer harten Lebensbedingungen wollten sie mit niemandem tauschen. Das Leben der Talbewohner erschien ihnen farblos und fade. Kurze Aufenthalte in diesem allzu kultivierten Landstrich genügten ihnen. Sobald sie die Zärtlichkeit der Frauen genossen und sich an Fleisch und Gemüse gelabt hatten, kehrten sie in die Sümpfe des Deltas zurück.
Der Prinz wiederum labte sich an ihrer Kraft. Er schulte seinen Blick und sein Gehör, stählte seinen Körper, ließ keine Klage hören, wenn die Müdigkeit ihm ins Fleisch schnitt, und dachte nicht mehr an die Vorzüge seines Rangs. Seine Kraft und Geschicklichkeit kamen einem Wunder gleich. Er vermochte ebensoviel zu leisten wie drei erfahrene Fischer. Doch diese Leistung weckte mehr Neid als Bewunderung, und bald schon wurde der Königssohn geschnitten.
Ein Traum zerbrach. Der Traum, ein anderer zu werden, auf die geheimnisvolle Kraft, die ihn beseelte, zu verzichten, um wie die anderen zu werden und als junger Mann leben zu dürfen wie die Steinhauer, die Seefahrer oder die Fischer. Sethos hatte ihn an die Grenze des Landes geführt, in diese abgelegenen Gefilde, wo das nahe Meer das Land aufzusaugen begann, damit er seine wahre Natur erkenne und sich von den Traumbildern der Kindheit befreie.
Sein Vater hatte ihn verlassen. Aber hatte er ihm nicht in der Nacht vor seiner Abreise einen Weg zum Königtum gewiesen?
Seine Worte waren nur für ihn bestimmt, für ihn, Ramses, und keinen anderen.
Ein Traum, ein Augenblick der Gnade, nichts weiter. Sethos sprach mit dem Wind, dem Wasser, dem unermeßlichen Reich des Deltas, und seine Worte sollten im Sohn Widerhall finden. Als er ihn mitnahm ans äußerste Ende der Welt, hatte er seine Eitelkeit und seine Träume gebrochen. Ramses’ Leben würde nicht das eines Herrschers sein.
Dabei fühlte er sich Sethos so nahe, wenn der Vater so unerreichbar schien. Er sehnte sich nach seinen Lehren, wollte seine Fähigkeit unter Beweis stellen und über sich hinauswachsen. Nein, das war kein gewöhnliches Feuer, das in ihm brannte. Sein Vater hatte ihn auserwählt, und die Geheimnisse, die er ihm nach und nach enthüllte, waren die des Königtums.
Niemand würde ihn abholen. Er mußte allein zurückfinden.
Ramses verließ die Fischer noch vor Morgengrauen, während sie, eng um eine Feuerstelle gedrängt, schliefen. Mit zwei Rudern steuerte er sein Papyrusboot gen Süden. Er ruderte gleichmäßig, beobachtete die Sterne, um die Richtung zu halten, vertraute dann seinem Instinkt und gelangte in einen Hauptarm des Flusses. Der Nordwind trieb ihn vorwärts, seine Arme, die nie müde wurden, ruderten weiter. Zielgerichtet und zielbewußt gönnte er sich nur kurze Pausen, aß etwas Dörrfisch und überließ sich dem Strom, anstatt gegen ihn anzukämpfen. Kormorane flogen über ihm dahin, und die Sonne umfing ihn mit ihren Strahlen.
Dort, an der Spitze des Deltas, sah man die weißen Mauern von Memphis.
SECHZEHN
Die hitze lastete schwer. Mensch und Tier verlangsamten ihren Arbeitsrhythmus und warteten sehnsüchtig auf die Flut, die den Bauern eine lange Ruhepause bescherte. Die Ernten waren eingebracht, und der Boden schien bald zu verdursten. Doch die Farbe des Nils hatte sich verändert, und die braune Tönung kündigte den baldigen Anstieg der wohltätigen Wassermassen an, denen Ägypten seinen Reichtum verdankte.
In den großen Städten suchte man überall Schatten. Die Händler auf den Märkten hatten große Stoffbahnen über Pfähle gespannt, die Zuflucht boten. Die von allen am meisten gefürchtete Periode hatte soeben begonnen, die fünf letzten Tage des Jahres, die nicht in den Kalender der zwölf Monate zu dreißig Tagen gehörten. Diese fünf Tage, die außerhalb des normalen Zyklus lagen, wurden von Sachmet beherrscht. Sachmet, schreckenerregende löwenköpfige Göttin, die die gegen das Licht aufbegehrende Menschheit vernichtet hätte, wenn nicht der Schöpfer sich noch cm letztes Mal für sie verwendet hätte und das göttliche Tier glauben machte, es tränke Menschenblut, während es in Wirklichkeit rotes, aus Schwindelhafer gewonnenes Bier war. Jedes Jahr zur gleichen Zeit befahl Sachmet ihren Horden, Unheil und Seuchen über das Land zu verbreiten, und machte sich selbst daran, die Erde von nichtsnutzigen, feigen und Ränke schmiedenden Menschenwesen zu befreien. Tag und Nacht wurden in den Tempeln Bittgebete gesprochen, um Sachmet zu besänftigen, und der Pharao persönlich vollzog ein Geheimritual, das – sofern der König gerecht war – abermals Tod in Leben verwandeln würde.
Während dieser fünf gefürchteten Tage lag das Wirtschaftsleben nahezu brach. Vorhaben und Reisen wurden verschoben, die Schiffe blieben im Hafen, viele Felder waren menschenleer. Ein paar Nachzügler befestigten noch hastig die Deiche gegen den heftigen Wind, der den Zorn der rachegierigen Löwin bezeugte. Was wäre ohne das Einschreiten des Pharaos übriggeblieben von dem Land?
Der Oberste Palastwächter von Memphis hätte sich auch lieber in seine Amtsräume zurückgezogen und das Fest des ersten Tags des neuen Jahres abgewartet, wenn in die von Furcht befreiten Herzen jubelnde Freude einzog. Aber Königin Tuja hatte ihn rufen lassen, und nun rätselte er über den Anlaß für diese Vorladung. Im allgemeinen hatte er keinen Zugang zur großen königlichen Gemahlin, deren Kammerdiener ihm die Befehle überbrachte. Wie erklärte sich also dieses ungewöhnliche Vorgehen?
Die hohe Dame flößte ihm, wie vielen Würdenträgern, große Furcht ein. Der ägyptische Hof mußte Vorbild sein, daran hielt sie fest und duldete keinerlei Nachlässigkeit. Ihr zu mißfallen war eine Verfehlung, die nicht mehr gutzumachen war.
Bisher hatte der Oberste Palastwächter sich nicht sonderlich plagen müssen, war weder gelobt noch getadelt worden und ohne Mißhelligkeiten vorangekommen. Er verstand es, nicht aufzufallen und sich an dem zugewiesenen Platz zu behaupten. Seit er dieses Amt übernommen hatte, war die Ruhe des Palastes durch keinen Zwischenfall gestört worden.
Kein Zwischenfall, abgesehen von dieser Vorladung.
Sollte ihn einer seiner Untergebenen, der auf seinen Posten lauerte, verleumdet haben? Ein Günstling der königlichen Familie ihn vernichten wollen? Was könnte man ihm vorwerfen? Die Fragen stürmten auf ihn ein und hämmerten in seinem Kopf. Der Oberste Palastwächter zitterte am ganzen Leib, und seine Augen zwinkerten nervös, als er in den Audienzsaal vorgelassen wurde, wo sich die Königin befand. Obwohl er größer war als sie, erschien sie ihm gewaltig.
Er warf sich zu Boden.
»Majestät, die Götter seien dir gewogen und…«
»Genug der hohlen Worte; setz dich.«
Die große königliche Gemahlin wies ihm einen bequemen Stuhl an. Er wagte nicht, zu ihr aufzublicken. Wie konnte eine so zierliche Frau so viel Macht ausstrahlen?
»Du weißt vermutlich, daß ein Stallknecht einen Anschlag auf Ramses verübt hat.«
»Ja, Majestät.«
»Du weißt ebenfalls, daß nach dem Wagenlenker gesucht wird, der Ramses zur Jagd begleitet hat und vielleicht der Anstifter dieses Verbrechens ist.«
»Ja, Majestät.«
»Gewiß bist du im Bilde über den Stand der Nachforschungen.«
»Sie könnten sich als langwierig und schwierig erweisen.«