»Sie könnten? Eine merkwürdige Ausdrucksweise! Solltest du fürchten, die Wahrheit herauszufinden?«
Wie von einer Wespe gestochen, sprang der Mann auf.
»Natürlich nicht! Ich…«
»Setz dich und hör mir aufmerksam zu. Ich habe den Eindruck, als solle dieser Vorfall totgeschwiegen und heruntergespielt werden. Ramses hat überlebt, sein Angreifer ist tot, und der Auftraggeber ist verschwunden. Warum also noch weitersuchen? Trotz der Beharrlichkeit meines Sohnes wird nichts Neues zutage gefördert. Leben wir hier in einem barbarischen Königreich, wo der Begriff Gerechtigkeit jeden Sinn verloren hat?«
»Majestät kennt doch die Einsatzbereitschaft der Wachen, ihr…«
»Ich stelle ihr Versagen fest und hoffe, daß dies sich ändern wird. Sollte jemand die Nachforschungen zu verhindern suchen, werde ich ihm auf die Schliche kommen. Mit anderen Worten, du wirst mir sagen, wer es ist.«
»Ich? Aber…«
»Es gibt keine bessere Stellung als die deine, um einer Sache schnell und taktvoll auf den Grund zu gehen. Finde den Wagenlenker, der Ramses in die Falle gelockt hat, und bring ihn vor Gericht.«
»Majestät, ich…«
»Irgendwelche Einwände?«
Der Oberste Palastwächter war am Boden zerstört und fühlte sich durchbohrt von einem der Pfeile Sachmets. Wie sollte er die Königin zufriedenstellen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen und das Mißfallen eines anderen zu erregen? Und wenn der für den Anschlag tatsächlich Verantwortliche eine hochgestellte Persönlichkeit wäre? Und vielleicht noch unbarmherziger als Tuja…? Sie aber duldete keinen Mißerfolg.
»Nein, natürlich nicht, aber leicht wird es nicht sein.«
»Das sagtest du bereits, ich wende mich ja an dich, weil es keine der üblichen Aufgaben ist. Und noch eine zweite Aufgabe will ich dir übertragen, die weitaus einfacher ist.«
Tuja sprach von den minderwertigen Tintensteinen und der zwielichtigen Werkstatt, wo sie hergestellt wurden. Dank der Hinweise von Ramses vermochte sie ihm zu sagen, wo sie sich befand, wissen wollte sie den Namen des Besitzers.
»Besteht zwischen den beiden Fällen ein Zusammenhang, Majestät?«
»Unwahrscheinlich, aber wer weiß? Dein Fleiß wird uns Klarheit verschaffen.«
»Gewiß, Majestät.«
»Ich bin entzückt. An die Arbeit!«
Die Königin zog sich zurück.
Niedergeschlagen, von Kopfschmerz geplagt, fragte sich der Würdenträger, ob ihm überhaupt noch etwas anderes blieb als die Magie.
Chenar strahlte.
Um den älteren Sohn des Pharaos scharten sich in einem der Empfangssäle des Palastes Dutzende von Händlern aus aller Welt. Zyprioten, Phönizier, Ägäer, Syrer, Libanesen, Afrikaner, Orientalen mit gelber Haut und Bleichgesichter aus den Nebeln des Nordens waren seinem Ruf gefolgt. Ägypten unter Sethos besaß weltweite Ausstrahlung, und eine Einladung an diesen Hof galt jedem als Ehre. Allein die Hethiter hatten niemanden entsandt, bekundeten also auch hiermit ihre wachsende Feindseligkeit gegenüber dem Pharao und seiner Politik.
Für Chenar lag die Zukunft in weltweiten Handelsbeziehungen. In den phönizischen Häfen, in Byblos, in Uggrit, liefen bereits Schiffe aus Kreta, aus Afrika oder dem fernen Orient ein. Warum sollte Ägypten sich der Ausweitung dieser Handelsbeziehungen widersetzen unter dem Vorwand, seine Identität und seine Traditionen wahren zu wollen? Chenar bewunderte seinen Vater, machte ihm aber den Vorwurf, kein Mann des Fortschritts zu sein. An seiner Stelle hätte er längst mit der Trockenlegung des größten Teils des Deltas begonnen und an der Mittelmeerküste zahlreiche Handelshäfen angelegt. Aber wie seine Ahnen war auch Sethos nur auf die Sicherheit der Zwei Länder bedacht. Wäre es nicht gescheiter, anstatt die Verteidigungsstellungen auszubauen und die Armee auf einen Krieg vorzubereiten, mit den Hethitern Handel zu treiben und die kriegslüsternsten zu befrieden, indem man ihnen zu Reichtum verhalf?
Bei seiner Thronbesteigung würde er, Chenar, erst einmal die Gewalt abschaffen. Er haßte die Armee, die Generäle und die Soldaten, die Engstirnigkeit dieser Haudegen, diese Machtausübung mittels roher Gewalt. Sollte diese Macht von Dauer sein, durfte man sie so nicht einsetzen. Über kurz oder lang würde sich ein besiegtes Volk gegen den Besatzer auflehnen und zum Sieger werden. Bände man es hingegen ein in ein dichtgeknüpftes Netz von Gesetzen, die die Wirtschaftsbeziehungen regeln und die nur von wenigen verstanden und gesteuert wurden, dann wäre jeder Widerstand schnell im Keime erstickt.
Chenar dankte dem Schicksal, daß es ihm die Stellung des älteren Sohnes und zukünftigen Thronfolgers beschert hatte. Dieser hitzköpfige und ahnungslose Ramses würde ihn gewiß nicht daran hindern, seine grandiosen Träume in die Tat umzusetzen. Ein weltweites Handelsnetz unter zivilisierten Völkern, mit ihm als uneingeschränktem Herrscher, Bündnisse zur Verfolgung seiner Absichten, eine Nation, die alle vereinen würde… Gab es einen berauschenderen Plan?
Was war schon Ägypten? Gewiß, hier würde alles beginnen, aber bald schon die Grenzen sprengen. Der in seinen Traditionen verhaftete Süden hatte keine Zukunft. Nach seinem Erfolg würde er, Chenar, sich in einem lieblichen Land niederlassen und von dort aus sein Reich regieren.
Für gewöhnlich wurden fremdländische Händler nicht bei Hof empfangen. Durch diese Einladung unterstrich Sethos’ Nachfolger die Bedeutung, die er ihnen zumaß. So bereitete er eine Zukunft vor, die er sich herbeiwünschte. Sethos zu überzeugen, seinen Kurs zu ändern, würde keine leichte Aufgabe sein, aber war ein der Maat Respekt schuldender Herrscher nicht gehalten, sich der Notwendigkeit des Augenblicks zu beugen? Chenar traute sich zu, für alles eine Rechtfertigung zu finden.
Der Empfang war ein voller Erfolg. Die ausländischen Händler versprachen Chenar die schönsten Vasen ihrer jeweiligen Handwerker als Geschenke. Damit würde er seine im ganzen Vorderen Orient berühmte Sammlung anreichern können. Er hätte alles gegeben für eine vollendete Vase, kunstvoll geschwungen, in berückenden Farben! Die Freude am Besitz wurde durch die des Betrachtens gesteigert. Die Lust, der er sich hingab, wenn er ungestört seinen Schätzen gegenübersaß, würde ihm niemand rauben können.
Einer seiner Zuträger trat an ihn heran, nachdem er das herzliche Gespräch mit einem ausländischen Händler unterbrochen hatte.
»Etwas Unangenehmes«, murmelte der Gewährsmann.
»Welcher Art?«
»Deine Mutter gibt sich mit den Ergebnissen der amtlichen Nachforschungen nicht zufrieden.«
Chenar verzog das Gesicht.
»Nur eine Laune?«
»Weit mehr.«
»Will sie etwa selbst nachforschen?«
»Sie hat den Obersten Palastwächter beauftragt.«
»Ein Schwachkopf.«
»In die Enge getrieben, könnte er unangenehm werden.«
»Lassen wir ihn erst einmal strampeln.«
»Und wenn er etwas herauskriegt?«
»Das ist unwahrscheinlich.«
»Wäre es nicht ratsam, ihm eine Warnung zu verpassen?«
»Da fürchte ich eher eine unvorhersehbare Reaktion. Dummköpfe bringt man nicht so leicht zur Vernunft. Außerdem wird er keine heiße Spur finden.«
»Wie lautet dein Befehl?«
»Beobachte ihn und halte mich auf dem laufenden.« Der Mann ging, und Chenar wandte sich wieder seinen Gästen zu. Trotz seines Unbehagens machte er eine gute Figur.
SIEBZEHN
Die flussstreife überwachte die Einfahrt in den Nordhafen von Memphis, um Unfälle zu vermeiden. Jedes Schiff mußte sich ausweisen und, wenn großer Andrang herrschte, warten, bevor es an dem zugewiesenen Platz anlegen durfte.
Der Oberaufseher der Hauptfahrrinne beobachtete das Geschehen. Jetzt, um die Mittagszeit, lichtete sich der Verkehr, da konnte er sich schon etwas Zerstreuung gönnen. Von der Spitze des weißen Turms betrachtete der Mann nicht ohne Stolz den Nil, die Kanäle und das grünende Land, das sich weit geöffnet dem Delta entgegenstreckte. In weniger als einer Stunde, sobald die Sonne den Zenit überschritten hatte, würde er heimgehen in den südlichen Vorort der Stadt, sich ein erquickendes Schläfchen gönnen und dann mit seinen Kindern spielen.