»Solch ein Verbrechen konnte nur ein Würdenträger vollbringen!«
»Du hast recht. Und zwar ein Würdenträger, der reich und mächtig genug war, Mittelsmänner zu dingen.«
»Dieser moralische Verfall ekelt mich an… Das dürfen wir nicht hinnehmen!«
»Solltest du mir etwa Feigheit zutrauen?«
»Mutter!«
»Ich liebe deine Auflehnung. Dulde niemals Ungerechtigkeit!«
»Wie können wir jetzt weiter verfahren?«
»Der Oberste Palastwächter kann nicht mehr weiter vordringen, daher übernehme jetzt ich den Fall.«
»Verfüge über mich, befiehl, und ich werde gehorchen.«
»Wärest du zu solch einem Opfer bereit um der Wahrheit willen?«
Das Lächeln der Königin war spöttisch und zärtlich zugleich.
»Ich bin nicht einmal fähig, der Wahrheit in mir ans Licht zu verhelfen.«
Ramses wagte nicht, noch mehr preiszugeben, schließlich wollte er sich in den Augen Tujas nicht lächerlich machen.
»Ein echter Mann begnügt sich nicht mit Hoffen, er handelt.«
»Selbst wenn das Schicksal gegen ihn zu sein scheint?«
»Dann muß er es ändern, und ist er dazu nicht fähig, darf er die Schuld nur bei seiner eigenen Mittelmäßigkeit suchen und sein Unglück keinem anderen anlasten.«
»Nimm einmal an, Chenar habe die Fäden gezogen beim Versuch, mich zu vernichten.«
Ein Ausdruck von Trauer überzog das Antlitz der Königin.
»Das ist eine grauenvolle Beschuldigung.«
»Dieser Verdacht hat dir wohl auch ins Herz geschnitten, nicht wahr?«
»Ihr seid meine Söhne, und ich liebe euch beide. Selbst wenn ihr charakterlich so verschieden seid und selbst wenn ihr beide ehrgeizig seid, darf man deinem Bruder solch eine Niedertracht doch wohl nicht unterstellen.«
Ramses war erschüttert. Seine Sehnsucht, eines Tages Pharao zu sein, hatte ihn so blind gemacht, daß er ringsum finstere Machenschaften vermutete.
»Mein Freund Acha fürchtet, der Frieden sei bedroht.«
»Er ist gut unterrichtet.«
»Ist mein Vater entschlossen, die Hethiter zu bekämpfen?«
»Die Lage zwingt ihn dazu.«
»Dann will ich mit ihm gehen und für mein Land kämpfen.«
EINUNDZWANZIG
In dem flügel des Palastes, der Chenar vorbehalten war, herrschte Mißmut unter den Bediensteten und der Beamtenschaft. Jeder schlich an den Wänden entlang, tat seine Arbeit und hielt sich streng an die Anweisungen, doch niemand lachte, niemand plauderte, man war bedrückt.
Die Nachricht war am Spätvormittag eingetroffen: sofortige Einberufung zweier Eliteregimenter für einen Dringlichkeitseinsatz mit anderen Worten: Man befand sich im Krieg mit den Hethitern! Chenar war am Boden zerstört. Diese heftige Reaktion brachte seine Handelspolitik, die er gerade erst eingefädelt hatte und deren erste Früchte er bald zu ernten gedachte, ins Wanken.
Dieses unkluge Auftrumpfen würde doch nur wieder ein Gefühl der Bedrohung wecken, und das war äußerst schädlich für die Handelsbeziehungen. Wie schon so viele vor ihm würde Sethos in eine Zwickmühle geraten. Was sollte diese veraltete Moralvorstellung, dieser Wille, den ägyptischen Herrschaftsbereich zu bewahren, die Größe einer Kultur herauszustreichen und dabei Kräfte zu vergeuden, die anderswo so nützlich eingesetzt werden konnten! Chenar war keine Zeit geblieben, den Ruf der militärischen Berater des Königs zu untergraben und ihre Verstocktheit zu beweisen. Diese Haudegen hatten doch nichts anderes im Kopf, als loszuschlagen. Sie hielten sich für Eroberer, vor denen alle anderen Völker sich zu verneigen hatten. Sollte dieser Krieg in einer Niederlage enden, würde Chenar diese Versager aus dem Palast verjagen, das schwor er sich.
Wer, wenn nicht Königin Tuja, würde über das Land herrschen, solange der Pharao, sein Wesir und sein Oberster Heerführer abwesend waren? Auch wenn ihre Gespräche mit Chenar seltener wurden und manchmal in Bitterkeit endeten, empfanden sie doch echte Zuneigung füreinander. Die Stunde für eine offene Aussprache war gekommen. Tuja würde ihn verstehen und zudem ihren Einfluß geltend machen, damit Sethos den Frieden bewahrte. Daher beharrte er auf seiner Bitte, sie so bald wie möglich zu sehen.
Tuja empfing ihn am Nachmittag in ihrem Audienzsaal.
»Das ist ein recht feierlicher Rahmen, liebe Mutter!«
»Ich vermute, dein Anliegen ist nicht privater Natur.«
»Du hast es erraten, wie immer. Woher hast du bloß diesen sechsten Sinn?«
»Ein Sohn darf seiner Mutter nicht schmeicheln.«
»Du liebst den Krieg doch nicht, nicht wahr?«
»Wer liebt schon den Krieg?«
»Ist der Entschluß meines Vaters dann nicht etwas übereilt?«
»Glaubst du etwa, er handle kopflos?«
»Gewiß nicht, doch die Kriegserklärung an die Hethiter…«
»Findest du Gefallen an schönen Gewändern?«
Chenar stutzte.
»Gewiß, aber…«
»Folge mir.«
Tuja führte ihren Ältesten in ein Nebengemach. Auf einem niedrigen Tisch lagen eine Langhaarperücke, ein Hemd mit weiten Ärmeln, ein langer, gefältelter und mit Fransen gesäumter Schurz sowie eine Schärpe, die unter der Taille gekreuzt wurde und das Kleidungsstück festhielt.
»Prächtig, nicht wahr?«
»Eine wundervolle Arbeit.«
»Diese Gewänder sind für dich, denn dein Vater hat dich zum Bannerträger für den bevorstehenden Feldzug gegen Syrien bestimmt. Du wirst zu seiner Rechten ziehen.«
Chenar erbleichte.
Der Bannerträger zur Rechten des Königs hatte die Lanze mit Widderkopf zu tragen, eines der Symbole Amuns, des siegreichen Gottes. Der ältere Sohn des Pharaos zog also mit seinem Vater in die Schlacht und stünde im Kampf an vorderster Front.
Ramses fieberte vor Ungeduld.
Warum kam Ameni nicht endlich mit der Liste derer, die Sethos mitzunehmen gedachte? Er wollte doch wissen, welcher Rang unter den hochgestellten Persönlichkeiten des Palastes ihm zugedacht war! Auf einen ehrenvollen Titel kam es ihm nicht an, kämpfen zu dürfen war ihm das wichtigste.
»Da bist du ja endlich! Was sagt diese Liste?«
Ameni senkte den Kopf.
»Lies selbst.«
Laut königlichem Beschluß war Chenar zum Bannerträger zur Rechten des Pharaos ernannt, Ramses’ Name war nicht einmal erwähnt.
In allen Kasernen von Memphis herrschte Aufbruchstimmung. Gleich am nächsten Morgen sollten die Fußtruppen und die Streitwagen nach Syrien ausrücken, angeführt vom Pharao selbst.
Ramses verbrachte den Tag im Hof der größten Kaserne. Als sein Vater bei Einbruch der Nacht den Kriegsrat verließ, wagte er sich an ihn heran.
»Darf ich eine Bitte vortragen?«
»Ich höre.«
»Ich möchte mit euch ziehen.«
»Mein Erlaß ist endgültig.«
»Einen Offiziersrang begehre ich nicht, ich möchte nur den Feind niedermachen.«
»Mein Entschluß war also richtig.«
»Ich… ich verstehe nicht recht.«
»Dem wahnwitziges Begehren ist nichts weiter als Eitelkeit. Um einen Feind niederzumachen, bedarf es besonderer Fähigkeiten, und die besitzt du nicht, Ramses.«
Nachdem er Wut und Enttäuschung überwunden hatte, war Chenar nicht unzufrieden mit seinem neuen Amt, da es eine ganze Reihe von Ehrungen, die ihm zuteil geworden waren, noch ergänzte. Ein Thronerbe mußte in der Tat seine Fähigkeiten als Krieger unter Beweis gestellt haben, das war anders nicht denkbar. Von den ersten Königen Thebens an hatte der Herrscher zu beweisen, daß er sein Land zu verteidigen und den Feind zurückzuschlagen verstand. Chenar beugte sich also dieser, wie er fand, albernen Tradition, da sie in den Augen des Volkes entscheidend war. Ja, sie belustigte ihn sogar, als er den enttäuschten Blick seines Bruders auffing, während die Vorhut, mit ihm als Bannerträger, vorbeizog.