Die allwissenden Höflinge beteuerten, der König werde nach dem Morgenritus in Karnak im Barkensaal des Tempels von Kurna Gott Amun ein besonderes Opfer darbringen, damit sein Ka erhoben und er seiner Lebenskraft nicht beraubt werde. Das sei auch der Grund für diese Verspätung, die für die älteren Würdenträger recht anstrengend war. Sethos war oft recht unbarmherzig, und Chenar nahm sich vor, derartige Fehler zu vermeiden und die Schwächen der einen wie der anderen besser zu nutzen.
Ein Priester mit kahlgeschorenem Schädel und in schlichtem, weißem Gewand trat aus dem überdachten Tempel. Mit einem langen Stab bahnte er sich seinen Weg. Verwundert traten die zu dieser neuartigen Zeremonie Geladenen beiseite, um ihm Platz zu machen.
Der Priester blieb vor Ramses stehen.
»Folge mir, Prinz.«
In den Reihen der Frauen entstand Gemurmel, als sie Ramses’ Schönheit und Stattlichkeit gewahrten. Iset war verzückt vor Bewunderung, und Chenar lächelte. So hatte er es also doch erreicht, daß sein Bruder noch vor dem Opet-Fest zum Vizekönig von Nubien ernannt und unverzüglich in diese von ihm heißgeliebte ferne Provinz entsandt wurde.
Ramses trat hinter dem Priester über die Schwelle des überdachten Tempels und folgte ihm in den linken Flügel des Bauwerks.
Die Zederntür schloß sich hinter ihnen, und der Priester geleitete Ramses zwischen zwei Säulen, die sich vor drei Kapellen erhoben. Dort herrschte noch Dunkelheit, doch aus der mittleren hallte eine tiefe Stimme. Die des Vaters?
»Wer bist du?«
»Mein Name ist Ramses, ich bin der Sohn des Pharaos Sethos.«
»An diesem verborgenen Ort, zu dem kein Ungeweihter Zugang hat, huldigen wir der ewigen Gegenwart Ramses’, unseres Ahnherrn und Begründers unserer Dynastie. Sein in die Wände geritztes Antlitz wird ewig leben. Bist du bereit, ihm zu huldigen und ihn zu verehren?«
»Ich bin es.«
»In diesem Augenblick bin ich Amun, der verborgene Gott. Tritt näher, mein Sohn.«
Die Kapelle erstrahlte.
Auf zwei Thronsesseln hatten Sethos und Königin Tuja Platz genommen. Der Pharao trug die Amunkrone mit den zwei langen Federn und Tuja die weiße Krone der Göttin Mut. Königspaar und Götterpaar waren eins geworden. Ramses war dem Gottessohn gleichgesetzt und vervollständigte so die geheiligte Dreiheit.
Der junge Mann war verwirrt. Er hatte sich die Verwirklichung des Mythos, dessen Bedeutung nur in der Verschwiegenheit der Tempel offenbart wurde, so nicht vorgestellt. Und er sank vor diesen beiden Wesen auf die Knie, denn ihm war bewußt, daß sie weit mehr waren als Vater und Mutter.
»Mein geliebter Sohn«, fuhr Sethos fort, »empfange von mir das Licht.«
Der Pharao drückte Ramses die Hände aufs Haupt. Die große königliche Gemahlin tat es ihm nach.
Im gleichen Augenblick verspürte der Prinz eine sanfte, wohltuende Wärme. Aufregung und Anspannung fielen von ihm ab und machten einer nie gekannten Energie Platz, die in jede Faser seines Körpers eindrang. Von nun an würde er aus dem Geiste des königlichen Paares leben.
Stille trat ein, als Sethos auf der Schwelle des Tempels erschien, Ramses zu seiner Rechten. Der Pharao trug die Doppelkrone, das Symbol für die Einheit Ober- und Unterägyptens; ein Diadem umspannte die Stirn des Prinzen.
Chenar zuckte zusammen.
Dem Vizekönig von Nubien gebührte kein solches Emblem! Das war ein Irrtum, ein wahnwitziges Mißverständnis!
»Mein Sohn Ramses wird von nun an den Thron mit mir teilen, damit ich zu Lebzeiten sein Handeln begutachten kann«, verkündete Sethos mit seiner tiefen und kraftvollen Stimme. »Ich ernenne ihn zum Regenten des Königreiches, und er soll teilhaben an all meinen Entscheidungen. Er wird lernen, das Land zu regieren, über seine Einheit und sein Wohlergehen zu wachen, er wird diesem Volk vorstehen und dessen Glück höher erachten als das eigene. Er wird die äußeren und inneren Feinde abwehren und den Schwachen gegen den Starken verteidigen, wie das Gesetz der Maat es verlangt. So soll es sein, denn groß ist meine Liebe zu Ramses, dem Sohn des Lichts.«
Chenar biß sich auf die Lippen. Der Alptraum würde gewiß zerstieben, Sethos alles widerrufen, Ramses würde von seinem Podest stürzen und auf die für seine sechzehn Jahre viel zu schwere Bürde verzichten. Aber da sah Chenar, wie der Zeremonienmeister auf Befehl des Pharaos eine goldene Uräusschlange an das Diadem heftete! Dies war das Zeichen der Kobra mit dem flammenden Atem, die die sichtbaren und unsichtbaren Widersacher des Regenten, des künftigen Pharaos Ägyptens, vernichten würde.
Die kurze Zeremonie war beendet, Jubel stieg auf in den lichten Himmel über Theben.
FÜNFUNDDREISSIG
Ameni überprüfte nochmals, was das Protokoll vorschrieb: bei der Prozession von Karnak nach Luxor würde Ramses zwischen zwei alten Würdenträgern gehen, er müßte also seine Schritte mäßigen. Langsam und feierlich zu schreiten dürfte ihn allerdings gewaltige Anstrengung kosten.
Ramses trat ein und vergaß, die Tür hinter sich zu schließen. Vom Luftzug gepackt, mußte Ameni sofort niesen.
»Mach doch die Tür hinter dir zu«, brummelte Ameni. »Du weißt nicht, was es heißt, krank zu…«
»Verzeih, Ameni, aber redest du so mit dem Regenten des Königreichs Ägypten?«
Erstaunt blickte der junge Schreiber zu seinem Freund hoch.
»Was für ein Regent?«
»Wenn ich nicht geträumt habe, hat mein Vater mich vor versammeltem Hof zu sich auf den Thron erhoben.«
»Das soll wohl ein Scherz sein!«
»Deine geringe Begeisterung tut mir wohl.«
»Regent, Regent! Was das für eine Arbeit wäre!«
»Die Liste deiner Aufgabengebiete wird immer länger, Ameni. Meine erste Entscheidung wird sein, dich zum Sandalenträger zu ernennen. So kannst du mich nie im Stich lassen und mußt mir nützliche Ratschläge geben.«
Wie erschlagen ließ der junge Schreiber sich gegen die Lehne seines niedrigen Stuhls sinken. Mit hängendem Kopf sagte er dann:
»Sandalenträger und Privatsekretär, welche Gottheit ist so grausam, daß sie derart herfällt über einen armen Schreiber?«
»Sieh das Protokoll noch einmal durch, mein Platz ist nicht mehr in der Mitte des Zuges.«
»Ich will ihn jetzt sofort sehen!« verlangte Iset, die Schöne, gereizt.
»Das ist leider völlig unmöglich«, erwiderte Ameni, der gerade dabei war, die herrlichen Sandalen aus weißem Leder zu polieren, die Ramses bei großen Festlichkeiten tragen würde.
»Weißt du ausnahmsweise wenigstens, wo er sich aufhält?«
»Das weiß ich in der Tat.«
»So rede doch!«
»Es wird dir aber nicht von Nutzen sein.«
»Das kann ich besser beurteilen!«
»Du vergeudest deine Zeit.«
»Das zu beurteilen steht einem Schreiberling nicht zu!«
Ameni setzte die Sandalen auf eine Matte.
»Schreiberling nennst du den Privatsekretär und Sandalenträger des Regenten? Du wirst deine Zunge im Zaum halten müssen, meine Hübsche. Mißachtung ist eine Verhaltensweise, die Ramses ganz und gar nicht schätzt.«
Iset, die Schöne, wollte Ameni schon ohrfeigen, gebot sich aber Einhalt. Der freche Kerl hatte recht. Die Hochachtung, die der Regent ihm entgegenbrachte, machte aus ihm eine Persönlichkeit, die auch sie nicht mehr verächtlich behandeln durfte. Widerwillig schlug sie einen anderen Ton an.
»Darf ich erfahren, wo der Regent sich aufhält?«
»Wie ich schon sagte, ist er unerreichbar. Der König hat ihn nach Karnak mitgenommen. Sie werden die Nacht über in Meditation verharren, bevor sie sich morgen früh an die Spitze der Prozession nach Luxor setzen.«