»Würde der Regent so gütig sein, mich anzuhören?«
»Nicht so feierlich, Bruder! Komm, setz dich.«
Der gelbe Hund hatte sich auf den Rücken gerollt und streckte zum Zeichen seiner Unterwürfigkeit gegenüber Schlächter alle viere in die Luft. Ramses gefiel diese List. Auch dem Löwen gefiel das, er merkte gar nicht, daß der Hund ihn an der Nase herumführte und die Spielchen nach seinem Geschmack gestaltete. Das zu beobachten war sehr aufschlußreich für den Regenten. Wurden hier nicht Klugheit und Kraft zu Verbündeten?
Zögernd ließ sich Chenar auf eine der Stufen nieder, wahrte aber einen gewissen Abstand zu seinem Bruder. Der Löwe fing an zu knurren.
»Hab keine Angst. Wenn ich es ihm nicht befehle, greift er nicht an.«
»Diese Wildkatze wird eines Tages gefährlich werden. Er könnte einen ranghohen Besucher anfallen…«
»Die Gefahr besteht nicht.«
Wächter und Schlächter spielten nicht weiter, sie beobachteten Chenar. Seine Anwesenheit mißfiel ihnen.
»Ich bin gekommen, dir meine Dienste anzutragen.«
»Sei bedankt.«
»Womit gedenkst du mich zu beauftragen?«
»Die Staatsangelegenheiten und das öffentliche Leben sind mir noch völlig fremd, wie könnte ich dir da ein Amt übertragen, ohne einen Fehler zu begehen?«
»Aber du bist doch der Regent!«
»Sethos ist der alleinige Herr über Ägypten, er und niemand anders trifft die wichtigen Entscheidungen. Er bedarf meiner Meinung nicht.«
»Ja, aber…«
»Ich bin mir meiner Unzulänglichkeit vollkommen bewußt und habe auch nicht die Absicht, mich als Regierender aufzuspielen. Mein Verhalten wird sich nicht ändern, ich werde dem Pharao dienen und ihm gehorchen.«
»Du wirst aber eigene Entscheidungen treffen müssen!«
»Das hieße ja, den Pharao zu verraten. Ich werde mich mit den Aufgaben begnügen, die er mir überträgt, und sie nach bestem Vermögen erfüllen. Wenn ich versage, wird er mich absetzen und einen anderen Regenten benennen.«
Chenar war entwaffnet. Er hatte das überhebliche Auftrumpfen eines Raubtiers erwartet und sah ein demütiges und harmloses Lämmchen vor sich! Oder sollte Ramses gelernt haben, sich zu verstellen, und in den Schafspelz geschlüpft sein, um den Gegner auf eine falsche Fährte zu locken? Das ließ sich leicht herausfinden.
»Ich vermute, daß du dich mit der Rangfolge im Staat vertraut gemacht hast.«
»Um diese Feinheiten zu erkennen, bedürfte ich mehrerer Monate, wenn nicht gar Jahre, ist das wirklich erforderlich? Dank Amenis Fleiß werden mir viele lästige Verwaltungsaufgaben erspart bleiben, so daß ich immer noch Zeit finden werde für meinen Hund und meinen Löwen.«
Keinerlei Spott klang da an, Ramses schien tatsächlich unfähig, seine Macht zu ermessen. Und Ameni, der war bei allem Fleiß und Arbeitseifer nichts weiter als ein junger Schreiber von siebzehn Jahren. Ameni würde die Geheimnisse des Hofes nicht so schnell entschlüsseln. Wenn Ramses es ablehnte, sich mit erfahrenen Männern zu umgeben, würde er seine Stellung schwächen und wie ein Esel dastehen.
Chenar mußte gar nicht kämpfen, er konnte weiter auf vertrautem Boden agieren.
»Ich war der Annahme, der Pharao habe dir in bezug auf meine Person Richtlinien erteilt.«
»Du hast recht.«
Chenar stutzte, also rückte er doch endlich mit der Wahrheit heraus! Bisher hatte er ihm etwas vorgemacht, und nun würde er ihm gnadenlos den Hieb versetzen, ihn aus dem öffentlichen Leben auszuschließen.
»Was wünscht der Pharao?«
»Daß sein älterer Sohn wie bisher seinen Verpflichtungen nachkommt und das Amt des Obersten Zeremonienmeisters übernimmt.«
Oberster Zeremonienmeister, das war ein wichtiges Amt. Chenar würde sich um die Gestaltung der offiziellen Zeremonien kümmern, die Anwendung der Erlasse überwachen und ständig Anteil haben an der Politik des Königs. Er war also ganz und gar nicht ins Abseits gedrängt, würde auch weiterhin an entscheidender Stelle stehen, selbst wenn diese nicht so herausragend war wie die des Regenten. Mit etwas Geschick könnte er durchaus seine Netze spinnen, haltbar und dauerhaft.
»Werde ich dir über mein Tun Rechenschaft ablegen müssen?«
»Mir nicht, dem Pharao, wie sollte ich etwas beurteilen, das ich nicht kenne?«
Also war Ramses nur ein Strohmann! Sethos behielt alle Macht in Händen und vertraute weiterhin seinem älteren Sohn.
In der Mitte der heiligen Stadt Heliopolis ragte der gewaltige Tempel empor, der Re, dem Gott des Lichts und Schöpfer des Lebens, geweiht war. Im November, wenn die Nächte kühler wurden, bereiteten die Priester dort das Osiris-Fest vor, Osiris, das verborgene Antlitz Res.
»Memphis und Theben kennst du«, sagte Sethos zu Ramses, »entdecke jetzt Heliopolis. Hier hat das Denken unserer Ahnen Gestalt angenommen. Vergiß nicht, diesem heiligen Ort zu huldigen, Theben drängt sich allzu häufig in den Vordergrund. Ramses, der Begründer unseres Herrscherhauses, sorgte für Gleichgewicht und die gerechte Machtverteilung zwischen den Hohepriestern von Heliopolis, Memphis und Theben. Ich achtete stets seine Sicht, achte auch du sie. Unterwirf dich keinem Würdenträger, aber sei das Band, das sie vereint und sie führt.«
»Ich denke oft an Auaris, die Stadt Seths«, bekannte Ramses.
»Wenn das Schicksal dich zum Pharao macht, wirst du dorthin zurückkehren und, sobald ich tot sein werde, mit der geheimen Macht in Berührung kommen.«
»Du wirst nie sterben!«
Dieser Ausruf klang wie ein Herzenserguß, auf Sethos’ Lippen wurde ein Lächeln sichtbar.
»Wenn mein Nachfolger mein Ka pflegt, wird diese Gunst mir vielleicht zuteil.«
Sethos hieß Ramses eintreten in das Heiligtum, den großen Tempel Res, wo in der Mitte eines Hofes unter freiem Himmel ein mächtiger Obelisk stand, dessen vergoldete Spitze den Himmel durchbohrte, um schädliche Einflüsse zu zerstreuen.
»Das ist die Verkörperung des Urgesteins, das zu Anbeginn der Zeiten aus dem Urozean aufstieg. Durch seine Anwesenheit auf Erden wird die Schöpfung bestehen bleiben.«
Ramses stand noch wie gebannt, doch schon führte der Vater ihn zu einer riesigen Akazie, der von zwei Priesterinnen, die Isis und Nephthys darstellten, gehuldigt wurde.
»In diesem Baum«, erklärte Sethos, »zeugt der Unsichtbare den Pharao, nährt ihn mit der Milch der Sterne und gibt ihm seinen Namen.«
Noch weitere Wunder warteten auf den Regenten. In einer weiträumigen Kapelle stand auf stuckverziertem Holzsockel eine Waage aus Gold und Silber, die vier Ellen Spannweite und mehr als vier Ellen Höhe erreichte. Die Spitze zierte ein goldener Pavian, die Verkörperung des Gottes Thot, des Meisters der Schrift- und Rechenkunst.
»Die Waage von Heliopohs wiegt Seele und Herz jedes Wesens und jedes Dings. Möge Maat, die von dieser Waage versinnbildlicht wird, dem Denken und Tun stets beseelen.«
Zum Abschluß dieses Tages in der Stadt des Lichts führte Sethos Ramses noch zu einer Baustelle, die die Arbeiter bereits verlassen hatten.
»Hier entsteht eine neue Kapelle, denn das Werk darf nie unterbrochen werden. Der Tempelbau ist die erste Pflicht eines Pharaos, durch ihn wird er sein Volk erbauen. Knie nieder, Ramses, und vollbringe dem erstes Werk.«
Sethos reichte Ramses Hammer und Meißel, und unter dem Schutz des erhabenen Obelisken und des väterlichen Blicks legte der Regent den Grundstein für das künftige Bauwerk.
SIEBENUNDDREISSIG
Ameni empfand grenzenlose Bewunderung für Ramses, hielt ihn aber nicht für frei von Fehlern. Zu schnell vergaß der Regent, daß einige ihm nach dem Leben trachteten, und zu nachlässig war er auch, wenn es darum ging, Geheimniskrämereien aufzudecken, wie beispielsweise die Sache mit den minderwertigen Tintensteinen. Er, der junge Sandalenträger des Regenten, vergaß nichts, und da sein neues Amt ihm gewisse Vorteile verschafft hatte, wollte er sie auch nutzen.