Sethos hatte seinen Willen dort also kundgetan und, wie ein Priester ihm anvertraut hatte, Ramses sogar vor die große Waage geführt. Das bedeutete, daß der Pharao den Regenten für fähig erachtete, das Gesetz der Maat zu wahren und Geradlinigkeit walten zu lassen. Dieses entscheidende Ereignis hatte allerdings in völliger Abgeschiedenheit stattgefunden und besaß bisher nur magische Bedeutung, aber Sethos hatte seinen Willen kundgetan und würde nicht davon abweichen.
Zeremonienmeister? Das war nichts als Augenwischerei! Sethos und Ramses hofften doch nur darauf, daß er in diesem Amt vor sich hin dämmere und seine hochfliegenden Pläne vergesse, während der Regent nach und nach die Zügel der Macht ergreifen würde.
Ramses war viel gerissener, als es schien, hinter der Maske der Demut verbarg sich wilder Ehrgeiz. Weil er seinem Bruder mißtraute, gab er sich lammfromm, aber die Episode in Heliopolis verriet seine wahren Absichten. Chenar mußte seine Strategie ändern. Alles der Zeit zu überlassen wäre ein Fehler, der seinen Untergang besiegelte. Er mußte zum Angriff übergehen und in Ramses den gefährlichen Widersacher sehen. Ihn von innen her anzugreifen genügte nicht auf Dauer. Seltsame Gedanken gingen Chenar durch den Kopf, sie waren so seltsam, daß sie ihn sogar erschreckten.
Seine Rachegelüste nahmen Überhand, es war ihm unerträglich, Ramses’ Untergebener zu sein. Er mußte einen geheimen Kampf führen. Auch wenn sich noch nicht absehen ließ, wie er ausgehen würde – zurückweichen würde er nicht.
Das Schiff mit dem mächtigen weißen Segel schaukelte anmutig auf dem Nil. Der Kapitän kannte alle Launen des Flusses und trieb ein geschicktes Spiel. Chenar saß in seiner Kajüte, um sich vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Er fürchtete das Brennen der Sonne und wollte sich seine weiße Haut bewahren.
Ihm gegenüber saß Acha und trank Johannesbrotsaft.
»Es hat dich doch hoffentlich niemand an Bord gehen sehen?«
»Ich hatte Vorsorge getroffen.«
»Du bist ein umsichtiger Mann.«
»Eher ein neugieriger. Warum hast du mir solche Vorsicht auferlegt?«
»Im Kap warst du mit Ramses befreundet.«
»Ich war sein Mitschüler.«
»Seht ihr euch noch, seit er zum Regenten ernannt wurde?«
»Er hat mein Gesuch um ein Amt in einer Gesandtschaft im Osten befürwortet.«
»Glaub mir, auch ich habe dazu beigetragen, deinen Ruf zu festigen, selbst wenn ich, seit ich selbst in Ungnade fiel, nicht das erreichen konnte, was ich für dich gewünscht hätte.«
»Ungnade? Ist das nicht übertrieben?«
»Ramses haßt mich und schert sich nicht einen Deut um das Glück Ägyptens. Sein einziges Ziel ist die uneingeschränkte Macht. Wenn niemand ihn hindert, sie zu erlangen, wird uns eine Ära des Unglücks beschert sein. Das zu verhindern, bin ich mir schuldig, und viele vernunftbegabte Leute werden mir dabei helfen.«
Acha blieb undurchdringlich.
»Ich habe Ramses gut gekannt«, warf er ein, »und er glich so gar nicht dem von dir beschriebenen Tyrannen.«
»Er spielt ein sehr gewieftes Spiel in seiner Darstellung als guter Sohn und gelehriger Schüler von Sethos. Nichts könnte dem Hof und dem Volk besser gefallen. Selbst ich bin eine Zeitlang darauf hereingefallen, in Wirklichkeit aber hat er nur eines im Sinn: Er will Herr beider Länder werden. Wußtest du, daß er sich nach Heliopolis begeben hat, um sich die Zustimmung des Hohenpriesters zu holen?«
Diese Worte verwirrten Acha.
»Ein solcher Schritt scheint in der Tat verfrüht.«
»Ramses übt einen schlechten Einfluß auf Sethos aus. Meiner Ansicht nach versucht er, den König zu überzeugen, so bald wie möglich zurückzutreten und ihm die Macht zu übertragen.«
»Ist Sethos denn so gefügig?«
»Wäre er es nicht, wieso hätte er dann Ramses zum Regenten gewählt? Mit mir, seinem älteren Sohn, hätte er einen treuen Diener zur Seite gehabt.«
»Du scheinst so manche Gebräuche über Bord werfen zu wollen.«
»Weil sie veraltet sind! Hat der große Haremheb nicht weise gehandelt mit seiner Neuerung der Rechtsordnung? Die alten Gesetze waren ungerecht geworden.«
»Bist du nicht entschlossen, Ägypten nach außen zu öffnen?«
»Das war in der Tat meine Absicht, denn nur der weitverzweigte Handelsaustausch sichert den Wohlstand.«
»Und hast du es dir jetzt anders überlegt?«
Chenars Gesicht verdüsterte sich.
»Wenn Ramses künftig regieren wird, muß ich meine Pläne ändern, daher sollte auch unser Gespräch geheim bleiben. Was ich dir mitteilen möchte, ist von äußerster Wichtigkeit. Weil ich mein Land retten will, muß ich einen geheimen Krieg gegen Ramses führen, seine Macht von unten her aushöhlen. Wenn du bereit bist, dich zu meinem Verbündeten zu machen, wird deine Aufgabe von entscheidender Bedeutung sein, und sobald wir gesiegt haben, wirst du die Früchte deines Handelns ernten.«
Acha, der undurchschaubar war, dachte lange nach.
Lehnte er ab, würde Chenar ihn vernichten, denn er hatte sich schon zu weit vorgewagt. Aber anders konnte man keine Männer anwerben, und die brauchte Chenar.
»Du drückst dich zu rätselhaft aus«, befand Acha.
»Handelsbeziehungen mit den Ostländern genügen nicht, um Ramses zu stürzen. Aufgrund der Umstände muß ein Vorstoß von größerer Tragweite unternommen werden.«
»Denkst du dabei an ein Bündnis mit den Fremdländern?«
»Als die Hyksos vor Jahrhunderten das Land überfielen und regierten, konnten sie auf die Unterstützung einiger Provinzvorsteher des Deltas zählen, denen Mitarbeit lieber war als der Tod. Eilen wir der Geschichte voraus, Acha, nutzen wir die Hethiter, um Ramses zu verjagen. Bilden wir eine Gruppe von verantwortungsbewußten Männern, die unser Land auf dem rechten Weg halten.«
»Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen.«
»Wenn wir nichts wagen, wird Ramses uns unter seinen Füßen zertreten.«
»Was genau schlägst du vor?«
»Der erste Schritt ist deine Entsendung in die Ostländer. Ich kenne deine außergewöhnliche Begabung, Beziehungen zu knüpfen. Du wirst die Freundschaft des Feindes gewinnen und ihn überreden, uns zu helfen.«
»Keiner kennt die tatsächlichen Absichten der Hethiter.«
»Mit deiner Hilfe werden wir sie bald kennen. Dann werden wir unser Vorgehen entsprechend abstimmen und Ramses dahingehend steuern, daß er verhängnisvolle Fehler begeht, die dann wiederum uns nützen.«
Auffallend ruhig verschränkte Acha die Finger.
»Ein verblüffendes Vorhaben, in der Tat, aber äußerst gewagt.«
»Feiglinge kommen nie zum Zuge.«
»Nimm einmal an, die Hethiter hätten nichts anderes im Sinn als Krieg.«
»Dann werden wir dazu beitragen, daß Ramses ihn verliert und wir als Retter dastehen.«
»Dazu werden Jahre der Vorbereitung nötig sein.«
»Da hast du recht. Der Kampf beginnt heute noch, und sein vorrangiges Ziel wird sein, Ramses’ Thronbesteigung zu verhindern. Wenn uns das mißlingt, muß er durch einen abgestimmten Angriff von innen und außen gestürzt werden. Da ich ihn für einen ernstzunehmenden Gegner halte, der an Kraft gewinnt, je mehr er sich beweisen muß, darf bei uns keine Planlosigkeit herrschen.«
» Und was bietest du mir im Austausch für meine Mitwirkung?«
»Wäre dir die gesamte Außenpolitik genehm?«
Das leise Lächeln auf dem Gesicht Achas bewies Chenar, daß er ins Schwarze getroffen hatte.
»Solange ich in meinem Arbeitszimmer in Memphis festsitze, kann ich nur sehr begrenzt tätig werden.«
»Du stehst in höchstem Ansehen, und Ramses wird uns helfen, ohne es zu wissen. Ich bin überzeugt, deine Ernennung ist nur mehr eine Frage der Zeit. Solange du noch in Ägypten weilst, werden wir einander nicht mehr treffen. Später werden unsere Begegnungen dann geheim sein.«