»Hol Männer aus den Steinbrüchen, sie sollen hier graben.«
Die Müdigkeit war verflogen. Ramses rannte atemlos über das Geröll und kehrte mit etwa vierzig Männern zurück, die sich gleich an die Arbeit machten.
Der Boden war locker. In sechs Ellen Tiefe sprudelte frisches Wasser.
Einer der Arbeiter sank auf die Knie.
»Gott hat dem König die Richtung gewiesen. Hier fließt so reichlich Wasser wie bei der Nilschwemme!«
»Mein Gebet wurde erhört«, sagte Sethos. »Von Bestand sei die Wahrheit des göttlichen Lichts soll dieser Brunnen heißen. Sobald jeder seinen Durst gelöscht hat, wollen wir eine Stadt für die Goldsucher und einen Tempel als Wohnstatt der Götter bauen. In diesem Brunnen werden sie sich verewigen und jenen, die zur Verherrlichung des Geheiligten hier nach dem strahlenden Erz suchen, den Weg weisen.«
Unter der Anleitung von Sethos, dem guten Hirten, dem Vater aller Menschen, dem Vertrauten der Götter, begannen gutgelaunte Soldaten, sich als Baumeister zu bewähren.
EINUNDVIERZIG
Tuja, die grosse königliche Gemahlin, waltete ihres Amtes als Vorsitzende bei der Aufnahmeprüfung für junge Musikerinnen. Die jungen Frauen, die den Hathor-Kult im Tempel von Memphis mitgestalten würden, waren aus allen Provinzen des Landes angereist und hatten – ob sie nun sangen, tanzten oder ein Instrument spielten – bereits eine Vorprüfung abgelegt.
Die Königin hatte die Bewerberinnen derartig beeindruckt, daß viele von ihnen rundum versagten. Die gestrengen und wachen Augen der Herrscherin, ihre ausgeprägten Wangenknochen, die schmale und gerade Nase und das kleine eckige Kinn verliehen Tuja Schönheit und Autorität zugleich. Ehrfurcht gebot auch ihre Raubvogelperücke, eine Weihe, das Sinnbild der Mütterlichkeit. Tuja, die sich in ihrer Jugend der gleichen Prüfung unterzogen hatte, ließ keinerlei Nachsicht walten, denn wer der Gottheit dienen wollte, mußte vor allem über Selbstbeherrschung verfügen.
Schon die Beherrschung der Instrumente ließ zu wünschen übrig. Sie würde die Lehrer in den Harims tadeln müssen, die in letzter Zeit offenbar die Zügel schleifen ließen. Hervorragend war nur eine. Diese junge Frau hatte ein ernstes, gesammeltes Gesicht von erstaunlicher Schönheit, und wenn sie ihre Laute spielte, war sie so versunken, als wäre die Außenwelt nicht mehr vorhanden.
In den Gärten des Tempels wurde allen Bewerberinnen, mochten sie glücklich oder unglücklich sein, eine Erfrischung gereicht. Die einen schluchzten, die anderen kicherten nervös. Sie waren alle noch so jung, fast noch Kinder. Nur Nefertari, der die Altpriesterinnenschaft die Leitung der Tempelmusikerinnen zu übertragen gedachte, schien so gelassen, als betreffe sie diese Auszeichnung gar nicht.
Die Königin trat auf sie zu.
»Du warst glänzend.«
Die junge Lautenspielerin verneigte sich.
»Wie heißt du?«
»Nefertari.«
»Woher kommst du?«
»Ich bin in Theben geboren und habe meine Ausbildung im Harim Mer-Our erhalten.«
»Dieser Erfolg scheint dir keine große Freude zu bereiten.«
»Ich wollte nicht nach Memphis übersiedeln, sondern nach Theben zurückkehren, um im Amun-Tempel zu dienen.«
»In der Abgeschiedenheit?«
»In den Amun-Kult eingeweiht zu werden ist mein innigster Wunsch, aber ich bin noch zu jung.«
»Für ein Mädchen deines Alters ist das ungewöhnlich. Bist du etwa vom Leben enttäuscht, Nefertari?«
»Nein, Majestät, aber die Rituale beglücken mich.«
»Möchtest du nicht heiraten und Kinder haben?«
»Daran habe ich noch nicht gedacht.«
»Das Leben im Tempel ist karg.«
»Ich hebe die steinernen Zeugen der Ewigkeit, ihre Geheimnisse und die innere Sammlung, die sie fordern.«
»Würdest du dennoch bereit sein, ein Weilchen von ihnen Abstand zu nehmen?«
Ohne Scheu sah Nefertari zur großen königlichen Gemahlin auf. Tuja hatte diesen freimütigen, offenherzigen Blick.
»Die Leitung der Tempelmusikerinnen ist ein hohes Amt, doch ich habe anderes mit dir vor. Wärest du bereit, die Leitung des Hofstaats der Königin zu übernehmen?«
Leiterin des Hofstaats der großen königlichen Gemahlin! Wie viele vornehme Damen träumten nicht von diesem Amt, denn es bedeutete, die Vertraute der Königin zu sein.
»Die alte Freundin, die dieses Amt versah, ist vorigen Monat verstorben«, erklärte Tuja. »Es gibt viele Anwärterinnen bei Hof, und jede verleumdet die andere, um sie auszustechen.«
»Ich habe keinerlei Erfahrung, ich…«
»Du bist nicht von Adel, nicht ständig auf deine Vorrechte bedacht, und deine Familie verweist nicht auf Schritt und Tritt auf eine ruhmreiche Vergangenheit, um ihre jetzige Trägheit zu rechtfertigen.«
»Ist meine Herkunft nicht ein schwerwiegendes Hindernis?«
»Für mich zählt nur, was der einzelne wert ist. Und ein wertvoller Mensch überwindet jedes Hindernis. Wofür entscheidest du dich?«
»Darf ich noch etwas nachdenken?«
Die Königin lächelte belustigt. Keine adelige Dame bei Hof hätte eine solche Frage zu stellen gewagt.
»Ich fürchte, nein. Wenn du zu lange Tempelluft atmest, wirst du mich vergessen haben.«
Nefertari faltete die Hände vor der Brust und verneigte sich.
»Zu Diensten, Majestät.«
Königin Tuja liebte die frühen Morgenstunden, daher stand sie vor Tagesanbruch auf. Der Augenblick, da ein Lichtstrahl die Finsternis durchstieß, versinnbildlichte für sie jeden Tag aufs neue die Erschaffung des Lebens. Zu ihrer großen Genugtuung teilte Nefertari ihre Freude an der Arbeit in den Morgenstunden. Daher gab sie ihr gleich beim gemeinsamen Frühstück ihre Anweisungen für den Tag.
Schon drei Tage nach ihrer Entscheidung wußte Tuja, daß sie sich nicht geirrt hatte. Nefertari war nicht nur schön, sondern verfügte außerdem noch über einen Scharfsinn, der völlig frei von Zwängen war und sie befähigte, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Sofort, gleich beim ersten Mal, als sie die Arbeit besprachen, hatte Einklang geherrscht zwischen der Königin und ihrer Hofmeisterin. Eine Andeutung genügte, und sie verstanden sich, wenn sie nicht gar den gleichen Gedanken hatten. Sobald ihre morgendlichen Gespräche beendet waren, begab sich Tuja in ihre Privatgemächer.
Während die Perücke der Königin noch von der Zofe mit Essenzen benetzt wurde, erschien Chenar bei seiner Mutter.
»Schick die Dienerin fort«, befahl er. »Was ich zu sagen habe, ist nicht für lauernde Ohren bestimmt.«
»Ist es so gewichtig?«
»Ich fürchte, ja.«
Die Zofe entfernte sich. Chenar schien wirklich von Angst gepeinigt.
»Sprich, mein Sohn.«
»Ich habe lange gezögert.«
»Da du dich nun aber doch wohl entschieden hast, warum spannst du mich dann noch länger auf die Folter?«
»Weil – weil ich mich nur schwer entschließen kann, dir schrecklichen Kummer zu bereiten.«
Nun war Tuja wirklich besorgt.
»Ist ein Unglück geschehen?«
»Sethos, Ramses und die Schutztruppen sind verschollen.«
»Hast du genauere Auskünfte?«
»Es ist doch nun schon sehr lange her, daß sie in die Wüste aufbrachen, um die Goldgräber zu finden, und all die Gerüchte verheißen nichts Gutes.«
»Hör sie dir einfach nicht an. Wenn Sethos tot wäre, wüßte ich es.«
»Wieso?«
»Zwischen deinem Vater und mir bestehen unsichtbare Bande. Selbst wenn wir fern voneinander sind, bleiben wir vereint. Beruhige dich also.«
»Du mußt ein Einsehen haben. Der König und seine Truppen müßten längst zurück sein. Wir können das Land nicht einfach verwaist lassen.«
»Der Wesir und ich erledigen die laufenden Geschäfte.«
»Wünschst du meine Unterstützung?«
»Erfülle deine Aufgaben und begnüge dich damit. Ein größeres Glück gibt es auf Erden nicht. Solltest du dennoch weiterhin besorgt sein, warum setzt du dich dann nicht an die Spitze eines Suchtrupps und folgst den Spuren deines Vaters und deines Bruders?«