»Zum Glück bin ich Ägypter.«
Menelaos und Ramses maßen einander mit Blicken. Der König von Lakedämon steckte als erster zurück.
»Ich werde auf meinem Schiff die Antwort erwarten.«
In der kleinen Ratsversammlung wurde das Verhalten des Regenten unterschiedlich gewertet. Gewiß, Menelaos und die Überreste seines Heeres stellten für Ägypten jetzt und auch zukünftig keine Bedrohung dar, aber trotz allem trug er den Titel eines Königs und verdiente Hochachtung. Ramses hörte sich die Mißfallensbekundungen an und verwarf sie. Hatte er nicht einen Kämpfer vor sich gehabt, einen dieser blutrünstigen Atridenkrieger, deren Lieblingsbeschäftigung das Plündern niedergebrannter Städte war? Einem Gauner dieser Art Gastfreundschaft zu gewähren schien ihm nicht angebracht.
Der sonst so zurückhaltende Meba, der über die Beziehungen zu den fremden Ländern wachte, ergriff das Wort.
»Die Haltung, die der Regent hier einnimmt, scheint mir gefährlich. Menelaos darf nicht verächtlich behandelt werden. Unsere Beziehungen setzen gutes Einvernehmen mit vielen großen wie kleinen Ländern voraus, nur so lassen sich gegen uns gerichtete Bündnisse vermeiden.«
»Dieser Grieche ist ein verschlagener Fuchs«, erklärte Ramses. »In seinem Blick liegt Falschheit.«
Meba, ein stattlicher Sechzigjähriger mit breitem, vertrauenerweckendem Gesicht und sanfter Stimme, lächelte nachsichtig.
»Gefühle dürfen nicht den Ausschlag geben bei Beziehungen zu fremden Ländern. Wir sind gezwungen, mit allen zu verhandeln, auch wenn sie uns manchmal nicht gerade gefallen.«
»Menelaos wird uns verraten«, beharrte Ramses. »Für ihn hat das einmal gegebene Wort keinerlei Wert.«
»Hier werden Absichten unterstellt«, klagte Meba. »Die Jugend verführt unseren Regenten, voreilig zu urteilen. Menelaos ist Grieche, und die Griechen mögen gerissen sein. Vielleicht hat er nicht die ganze Wahrheit gesagt. Aber es obliegt uns, umsichtig zu verfahren und die wahren Gründe dieses Besuchs aufzudecken.«
»Bitten wir Menelaos und seine Gemahlin zu Tisch«, erklärte schließlich Sethos. »Ihr Verhalten wird unsere Entscheidung bestimmen.«
Menelaos brachte als Gastgeschenk für den Pharao kunstvoll gefertigte Gefäße aus Metall und Bogen aus verschiedenen Hölzern. Diese Waffen hatten ihre Zugkraft bei den Kämpfen um Troja bewiesen. Das Gefolge des Königs von Lakedämon trug bunte Röcke mit geometrischen Mustern und hohe Schuhe; die gewellten Haarsträhnen fielen bis auf den Nabel herab.
Nektarduft entströmte dem grünen Gewand Helenas, die ihr Antlitz unter einem weißen Schleier verbarg. Sie nahm zur Linken Tujas Platz, Menelaos zur Rechten Sethos’. Der Grieche war beeindruckt vom strengen Antlitz des Pharaos. Meba steuerte das Gespräch. Der Oasenwein entspannte den König von Lakedämon. Er erging sich in Wehklagen, bedauerte die langen Jahre vor den Mauern Trojas, schilderte seine Heldentaten, sprach über seinen Freund Odysseus, rang die Hände ob der Grausamkeit der Götter und rühmte die Reize seines Landes, nach dem er solche Sehnsucht hatte. Meba, der vollendet griechisch sprach, schien den Klagegesängen seines Gastes Glauben zu schenken.
»Warum verbirgst du dein Gesicht?« fragte Tuja Helena in deren Sprache.
»Weil ich eine abstoßende Hündin bin, die jedermann verabscheut. Der Tod vieler Helden lastet auf mir. Als Paris, der Troer, mich entführte, ahnte ich nicht, daß seine Wahnsinnstat zehn Jahre Gemetzel auslösen würde. Hundertmal habe ich mir gewünscht, der Wind möge mich davontragen oder eine entfesselte Woge mich in den Abgrund reißen. Zu viel Elend, ich habe zu viel Elend ausgelöst.«
»Bist du jetzt nicht frei?«
Ein schwaches Lächeln wurde unter dem weißen Schleier sichtbar.
»Menelaos hat mir nicht vergeben.«
»Die Zeit wird euer Leid verwischen, da ihr wieder vereint seid.«
»Da ist noch etwas viel Schlimmeres…«
Tuja achtete Helenas schmerzerfülltes Schweigen. Sie würde schon reden, wenn ihr danach war.
»Ich hasse meinen Mann«, bekannte diese schöne Frau mit den weißen Armen.
»Sicher scheust du nur zurück vor ihm? Das vergeht.«
»Nein, ich habe ihn niemals geliebt. Ich hatte sogar auf einen Sieg Trojas gehofft. Majestät…«
»Ja, Helena?«
»Gestatte mir, so lange wie möglich hierzubleiben. Nach Lakedämon zurückzukehren ist mir ein Greuel.«
Vorsichtshalber hatte Chenar Ramses einen Platz in größerer Entfernung von Menelaos zugewiesen. Der Regent saß neben einem Mann von unbestimmbarem Alter mit scharf geschnittenem und faltigem Gesicht, das ein langer weißer Bart zierte. Er aß langsam und beträufelte sämtliche Speisen mit Olivenöl.
»Dies ist der Schlüssel zur Gesundheit, mein Prinz!«
»Mein Name ist Ramses.«
»Und meiner Homer.«
»Bist du Heerführer?«
»Nein, Dichter. Mein Augenlicht ist schlecht, doch mein Gedächtnis hervorragend.«
»Ein Dichter neben diesem grobschlächtigen Kerl Menelaos?«
»Die Winde hatten mir kundgetan, daß seine Schiffe nach Ägypten segelten, dem Land der Weisheit und der Dichter. Nach langem Reisen möchte ich mich hier niederlassen, um in Ruhe zu arbeiten.«
»Ich bin gegen einen längeren Aufenthalt von Menelaos.«
»Mit welcher Befugnis?«
»Der des Regenten.«
»Du bist noch recht jung, und du haßt die Griechen?«
»Ich sprach von Menelaos, nicht von dir. Wo möchtest du wohnen?«
»Wo es sich angenehmer leben läßt als auf einem Schiff! Dort bin ich beengt, mein Hab und Gut ist im Schiffsrumpf gestapelt, und die Gesellschaft der Seeleute ist schwer zu ertragen. Wellengang, Wogen und Stürme sind der Eingebung abträglich.«
»Würdest du meine Hilfe annehmen?«
»Du sprichst fehlerfreies Griechisch.«
»Einer meiner Freunde ist Gesandter und spricht viele Sprachen, so habe auch ich es spielerisch erlernt.«
»Hast du Freude an der Dichtkunst?«
»Du wirst an unseren großen Dichtern Gefallen finden.«
»Wenn wir gemeinsame Vorlieben haben, können wir uns vielleicht verstehen.«
Chenar erfuhr die Entscheidung des Pharaos aus dem Munde Mebas: Menelaos wurde gestattet, sich in Ägypten aufzuhalten. Seine Schiffe sollten instand gesetzt, seine Soldaten ägyptischem Oberbefehl unterstellt und strengen Regeln unterworfen werden, und er selbst sollte in einem geräumigen Haus mitten in Memphis wohnen.
Dem älteren Sohn des Pharaos oblag es nun, Menelaos die Geheimnisse der Hauptstadt nahezubringen. Tagelang und häufig unter größten Mühen versuchte Chenar den Griechen in die Grundlagen der ägyptischen Kultur einzuweisen, doch dabei stieß er auf einen Widerstand, der schon fast eine Unhöflichkeit war.
Die Bauwerke hingegen beeindruckten Menelaos. Angesichts der Tempel hielt er mit Bewunderung nicht zurück.
»Was für großartige Festungen! Sie zu erstürmen dürfte kein Kinderspiel sein.«
»Es sind die Wohnstätten der Gottheiten«, erklärte Chenar.
»Der Kriegsgottheiten?«
»Nein. Ptah ist der Oberste Leiter der Handwerker, der die Welt durch das Wort prägt, und Hathor ist die Göttin der Freude und der Musik.«
»Warum benötigen sie Festungen mit so dicken Mauern?«
»Die göttliche Lebenskraft ist in Hände gelegt, die sie vor Entweihung zu schützen wissen. Um in den überdachten Tempel eingelassen zu werden, muß man erst eingeweiht werden in gewisse Geheimnisse.«
»Mit anderen Worten, ich, der König von Lakedämon, Sohn des Zeus und Sieger über Troja, habe nicht das Recht, über die Schwelle dieser vergoldeten Türen zu treten!«
»So ist es, bei gewissen Festlichkeiten wird dir, sofern der Pharao zustimmt, vielleicht gestattet, in den großen Hof unter freiem Himmel einzutreten.«
»Und welches Geheimnis wird mir da enthüllt?«
»Die große Opferhandlung zu Ehren der Gottheit, die in diesem Tempel wohnt und der Erde ihre Lebenskraft spendet.«