Ramses bewahrte jedes der in dieser Nacht außerhalb der Zeit gesprochenen Worte in seinem Herzen. Hier wirkte nicht seine Mutter als Priesterin, sondern eine Göttin, und diese Weihezeremonie eröffnete seinem Geist das innerste Geheimnis jeglicher Wiedergeburt. Er schwankte mehrmals, glaubte sich losgelöst von der Welt der Menschen und eingegangen in das Jenseits. Doch er ging als Sieger hervor aus diesem denkwürdigen Kampf, Leib und Seele blieben verbunden.
Ramses verweilte mehrere Wochen in Abydos. Er meditierte am heiligen See, den riesige Bäume umstanden. Über den See zog bei den Kultfeiern die Barke des Osiris, die nicht von Menschenhand, sondern aus Licht zusammengefügt war. Stunde um Stunde verbrachte er an der »Treppe des großen Gottes« inmitten der Stelen der Toten, deren Seelen vor dem Gericht Osiris’ als rechtschaffen erkannt worden waren und die sich in Gestalt eines Vogels mit Menschenkopf als Pilgerin in Abydos einfanden, um die täglich von den Priestern dargebrachten Opfergaben entgegenzunehmen.
Man zeigte Ramses auch den Tempelschatz, der Gold und Silber, Königslinnen, Statuen, heiliges Öl und Weihrauch, Wein und Honig, Myrrhe, Balsam und Gefäße enthielt. Ramses wollte auch die Speicher sehen, wo die auf den Gütern von Abydos erzeugten Lebensmittel gehortet waren, und er zelebrierte das Weiheritual, bevor sie an die Bevölkerung verteilt wurden. Auch Ochsen, fette Kühe, Kälber, Ziegen und Federvieh wurden geweiht. Einige Tiere blieben in den Tempelstallungen, doch die meisten kehrten in die umliegenden Dörfer zurück.
Im Jahre vier seiner Regierung hatte Sethos eine Verfügung erlassen, nach der jeder, der für den Tempel arbeitete, seine Pflicht kennen und ihr bedingungslos entsprechen mußte. Daher, so hieß es, käme es auf den Gütern von Abydos niemals zu Machtmißbrauch, zu Zwang oder behördlichem Einschreiten. Der Wesir sowie Richter, hohe Beamte, Bürgermeister und Amtspersonen waren angewiesen worden, diesen Erlaß streng zu befolgen, und so verblieben Schiffe, Esel oder Ackergrund im Raume Abydos immer in Händen ihrer Besitzer. Und Bauern, Züchter, Winzer und Gärtner lebten dort in Frieden unter dem doppelten Schutz von Pharao und Osiris. Damit auch jeder Kenntnis erhielte von diesem Erlaß, hatte Sethos ihn überall einmeißeln lassen, bis tief hinein ins Herz Nubiens, wo in Nauri die fast sechs Ellen lange und drei Ellen breite Inschrift jedem Besucher ins Auge springt. Jeder Versuch, die Ländereien des Tempels zu schmälern oder einen seiner Diener gegen seinen Willen zu versetzen, würde mit zweihundert Stockschlägen und dem Abschneiden von Nase oder Ohren geahndet.
Indem er am Alltagsleben des Tempels teilnahm, erkannte Ramses, daß Priestertum und Wirtschaftswalten, selbst wenn sie sich deutlich voneinander unterschieden, doch nicht getrennt waren. Wenn der Pharao im Allerheiligsten mit der Gottheit Zwiesprache hielt, gab es die dingliche Welt zwar nicht mehr, doch um das Heiligtum zu erbauen und seine Steine zum Sprechen zu bringen, dazu hatte es des Genies der Baumeister und Bildhauer bedurft.
Keine absolute Wahrheit wurde im Tempel gelehrt, kein Dogma zwängte das Denken ein bis hm zur Verblendung. Der Tempel war der Ort der Fleischwerdung der Geisteskraft, ein steinernes Schiff, das sich nur scheinbar nicht von der Stelle bewegte. Der Tempel reinigte, wandelte und heiligte. Er war das Herz der ägyptischen Gesellschaft und lebte aus der Liebe, die die Gottheit mit dem Pharao verband, und aus dieser Liebe lebten auch die Menschen.
Mehrmals ging Ramses zu jener Ahnengalerie und prägte sich die Namen der Könige ein, die das Land erbaut hatten unter strenger Beachtung der Regel der Maat. In der Nähe des Tempels befanden sich die Grabmale der Könige der ersten Dynastie. Ihre Mumien ruhten in den Ewigkeitshäusern von Sakkara, aber hier war ihr unsichtbarer und unsterblicher Leib zu Hause, ohne den es den Pharao gar nicht geben würde.
Plötzlich erschien die Aufgabe ihm erdrückend. Er war doch nur ein junger Mann von achtzehn Jahren, lebenshungrig, feurig, aber doch nicht fähig, Nachfolger dieser Giganten zu werden! Es wäre doch schamlos und vermessen, Sethos’ Thron einnehmen zu wollen.
Ramses hatte sich einem Traum hingegeben, Abydos stellte ihm die Wirklichkeit vor Augen. Das war der Hauptgrund, warum sein Vater ihn hierhergebracht hatte. Deutlicher als dieses Heiligtum hätte niemand ihm klarmachen können, was für ein Winzling er war.
Er verließ den Tempelbezirk und ging in Richtung des Flusses. Es war Zeit, nach Memphis zurückzukehren, Iset, die Schöne, zur Gemahlin zu nehmen, mit den Freunden zu feiern und seinem Vater zu erklären, daß er auf das Amt des Regenten verzichte. Da sein älterer Bruder ja so versessen darauf war, warum ihm dann diese Freude nicht lassen?
In Gedanken vertieft, irrte Ramses zwischen den Feldern umher und gelangte schließlich in die Niederungen am Saum des Nils. Da das Schilf ihn behinderte, drückte er es auseinander. Da sah er ihn.
Die langen Ohren, die Beine stämmig wie Pfeiler, das braunschwarze Fell, der zottige Bart, die gewaltigen spitzen Hörner und diese Augen, die ihn so unbeirrt ansahen wie vier Jahre zuvor! Es war der wilde Stier.
Ramses wich nicht zurück.
Es oblag dem Stier, ihm sein Geschick zuzuweisen. Er verfügte im Reich der Natur über die größte Kraft, er war der König der Tiere. Würde er sich auf ihn stürzen, ihn auf die Hörner nehmen und zertrampeln, hätte der ägyptische Hof einen Prinzen weniger, der sich aber leicht ersetzen ließe. Schenkte er ihm aber das Leben, dann wäre es nicht mehr nur das seine, und dann würde er sich dieser Gabe würdig erweisen.
SECHSUNDVIERZIG
Zu den meisten Festen und Gelagen wurde Menelaos als Ehrengast geladen. Helena willigte ein, sich mit ihm zu zeigen, und erntete allerseits Zustimmung. Die Griechen mischten sich unters Volk, achteten die Gesetze des Landes und machten nicht weiter von sich reden.
Dieser Erfolg wurde Chenar zugeschrieben, seinem diplomatischen Geschick, wie seine Anhänger mutmaßten. Das offenkundig feindselige Verhalten des Regenten gegenüber dem König von Lakedämon war, wenn auch verhohlen, mißbilligt worden. Ramses war nicht anpassungsfähig und ließ es an Anstand mangeln. War das nicht ein erneuter Beweis, daß er unfähig war, zu regieren?
Die Wochen vergingen, und Chenar gewann verlorenen Boden zurück. Die lange Abwesenheit seines Bruders, der noch immer in Abydos weilte, ließ ihm freie Hand. Er trug zwar nicht den Titel eines Regenten, aber wer wollte leugnen, daß er das Zeug dazu hatte?
Zwar wagte niemand, Sethos’ Entscheidung für abwegig zu halten, doch er konnte sich vielleicht geirrt haben. So mancher Höfling hielt das nicht für ausgeschlossen. Ramses’ Auftreten war gewiß weitaus beeindruckender als das Chenars, aber genügte das für ein Staatsoberhaupt?
Von Widerstand konnte noch keine Rede sein, aber Unmut war zunehmend spürbar, und den würde Chenar im geeigneten Augenblick zu nutzen wissen. Eines hatte der ältere Sohn des Königs inzwischen gelernt: Ramses würde ein gefährlicher Gegner sein. Um ihn zu bezwingen, mußte man von mehreren Seiten gleichzeitig angreifen und ihm keine Zeit lassen, neuen Atem zu schöpfen. Dieses geheime Ziel verfolgte Chenar mit Eifer und Ausdauer.
Ein entscheidender Schritt war ihm bereits gelungen. Zwei griechische Offiziere waren der Palastwache zugeteilt worden. Sie würden sich mit bereits dort tätigen Söldnern anfreunden und eine geheime Truppe bilden. Vielleicht würde sich einer der Männer sogar hochdienen bis in die Leibgarde des Regenten! Das wollte Chenar einfädeln, mit Menelaos’ Unterstützung.
Seit der König von Lakedämon hier gelandet war, sah die Zukunft wieder rosiger aus. Nun mußte nur noch einer der Leibärzte bestochen werden, um genauere Auskünfte über den Gesundheitszustand des Königs zu erlangen. In bester Verfassung schien Sethos nicht zu sein, aber nur nach dem Augenschein zu urteilen konnte sich als Fehleinschätzung erweisen.