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Dieser Mann war eine leichte Beute.

Anhand der Arzneien, die im Sachmet-Heiligtum für seinen Vater angerührt und gemischt wurden, vermochte Chenar zu erkennen, daß Sethos an einer zwar schleichenden, doch schweren Krankheit litt. In drei, spätestens vier Jahren wäre der Thron verwaist.

Zur Erntezeit opferte Sethos der Schutzgöttin eine Schale Wein. Die Basaltstatue der glücksbringenden Kobra wachte über die Felder. Die Bauern versammelten sich rings um den König, dessen Anwesenheit als Gnade empfunden wurde. Der Herrscher liebte diese Zusammentreffen mit dem einfachen Volk, hier fühlte er sich wohler als in Gesellschaft der meisten seiner Höflinge.

Als die Feier beendet war, huldigte man der Göttin der Fruchtbarkeit, dem Gott des Korns und dem Pharao, der allein es ihnen ermöglichte, Gestalt anzunehmen. Ramses sah, wie beliebt sein Vater im Volk war. Die hohen Amtsinhaber fürchteten Sethos, das Volk verehrte ihn.

Sethos und Ramses ließen sich in einem Palmenhain an einem Brunnen nieder. Eine Frau brachte ihnen Trauben, Datteln und kühles Bier. Der Regent hatte das Gefühl, daß der König hier ein wenig Ruhe suchte, fernab vom Hof und von den Staatsgeschäften. Hatte er nicht die Augen geschlossen, das Gesicht überstrahlt von sanftem Licht?

»Wenn du regieren wirst, Ramses, erforsche die Seele der Menschen, hole dir Rat bei gefestigten und aufrichtigen Würdenträgern, die ein uneigennütziges Urteil zu fällen vermögen und ihren Eid, Gehorsam zu leisten, dennoch nicht brechen. Verleihe ihnen den ihnen gebührenden Platz, wo sie das Gesetz der Maat befolgen können. Sei unnachsichtig mit denen, die sich bestechen lassen, aber auch mit denen, die andere bestechen.«

»Du wirst noch lange regieren, Vater. Wir haben dein Jubiläum ja noch nicht gefeiert.«

»Dazu wären dreißig Jahre auf dem Thron Ägyptens nötig, und so viel Zeit habe ich nicht mehr.«

»Bist du etwa kein Granitblock?«

»Nein, Ramses, der Stein ist ewig, der Name des Pharaos überdauert die Zeiten, aber mein sterblicher Leib wird verschwinden. Und dieser Augenblick rückt näher.«

Der Regent empfand einen stechenden Schmerz in der Brust.

»Das Land braucht dich doch viel zu sehr.«

»Du hast schon viele Prüfungen bestanden und bist schnell gereift, aber du stehst erst am Beginn deines Lebens. Erinnere dich dein Leben lang an den Blick des wilden Stiers. Er möge dir die Gedanken und die Kraft verleihen, deren du bedarfst.«

»Neben dir fällt mir alles leicht. Warum soll das Schicksal dir nicht viele, viele Regierungsjahre gewähren?«

»Das Wichtigste ist, dich bereitzumachen.«

»Glaubst du, der Hof wird mich billigen?«

»Nach meinem Tod werden dir viele Neider Steine in den Weg werfen und Fallgruben aufreißen unter deinen Füßen. Dann wirst du allein deinen ersten großen Kampf zu bestehen haben.«

»Werde ich denn keine Verbündeten haben?«

»Vertraue niemandem. Auch Bruder und Schwester gibt es dann nicht mehr. Derjenige, dem du viel gegeben haben wirst, wird dich verraten; der Arme, den du reich gemacht hast, wird dir in den Rücken fallen; derjenige, dem du die Hand gereicht haben wirst, wird Verschwörungen gegen dich anzetteln. Mißtraue deinen Untergebenen wie auch deinen Nächsten, verlaß dich nur auf dich selbst. Gerätst du ins Unglück, wird keiner dir beistehen.«

NEUNUNDVIERZIG

Iset, die schöne, die in den Königspalast von Theben eingezogen war, gebar einen prächtigen Sohn, der den Namen Kha erhielt. Nachdem Ramses sie besucht hatte, übergab die junge Mutter das Kind einer Amme und begab sich selbst in Pflege, damit die Entbindung auf ihrem herrlichen Körper keinerlei Spuren hinterließ. Ramses war stolz auf seinen Erstgeborenen, und Iset, die sich über sein Glück freute, versprach, ihm weitere Kinder zu schenken, wenn er sie weiterhin liebte.

Dennoch fühlte sie sich nach seiner Abreise sehr einsam, und ihr fielen die höhnischen Worte Chenars wieder ein. Ramses verließ sie, um zu Nefertari zurückzukehren, deren Zurückhaltung und Zärtlichkeit sie aufbrachten. Wie leicht wäre es gewesen, sie zu hassen! Aber die Hauptgemahlin Ramses’ eroberte sich allmählich, ohne eigenes Zutun, allein durch ihre Ausstrahlung, die Herzen und Gemüter der Menschen. So war es auch Iset ergangen, die Ramses’ Verhalten schließlich hinnahm.

Aber diese Einsamkeit lastete auf der jungen Frau. Sie trauerte dem Prunk am Hofe von Memphis nach, den endlosen Plauderstündchen mit ihren Jugendfreundinnen, den Bootsfahrten auf dem Nil, den Badefreuden in den Wasserbecken der herrschaftlichen Anwesen. Theben war reich und glanzvoll, aber hier war sie nicht geboren.

Vielleicht hatte Chenar recht. Vielleicht sollte sie es Ramses nicht verzeihen, daß er sie in den zweiten Rang verbannt hatte, als Nebenfrau.

Homer zerrieb getrocknete Salbeiblätter zu einem Pulver und schüttete dieses dann in ein großes Schneckenhaus. Daran befestigte er ein Schilfrohr, zündete die Mischung an und rauchte genüßlich.

»Das ist ein merkwürdiger Brauch«, befand Ramses.

»Es erleichtert mir das Schreiben. Wie geht es deiner wundervollen Gemahlin?«

»Nefertari leitet weiterhin den Hofstaat der Königin.«

»Die Frauen in Ägypten zeigen sich recht viel. In Griechenland sind sie zurückhaltender.«

»Beklagst du das?«

Homer zog an seiner Pfeife.

»Ehrlich gestanden, nein. In diesem Punkt habt ihr vermutlich recht. Doch ansonsten hätte ich allerlei zu bemäkeln.«

»Ich wäre glücklich, es zu hören.«

Diese Aufforderung überraschte den Dichter.

»Lechzt du nach der Peitsche?«

»Wenn deine Einwände dazu führen, das tägliche Wohlbefinden zu steigern, sind sie mir willkommen.«

»Ägypten ist ein seltsames Land. In Griechenland palavern wir stundenlang, reden uns in Begeisterung und streiten bis aufs Messer. Doch wer übt hier Kritik an den Worten des Pharaos?«

»Seine Aufgabe ist es, das Gesetz der Maat anzuwenden. Unterläuft ihm dabei ein Fehler, kommt es zu Unordnung und Unglück, und danach gieren die Menschen.«

»Habt ihr keinerlei Vertrauen in den einzelnen?«

»Keinerlei, was mich betrifft. Überläßt du ihn sich selbst, gewinnen Verrat und Feigheit die Oberhand. Den krummen Stab wieder geradebiegen, das lehrten und forderten die Weisen.«

Homer tat einen weiteren Zug aus seiner Pfeife.

»In meiner Ilias kommt ein Seher vor, den ich gut gekannt habe. Er wußte um Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Was die Gegenwart anbelangt, bin ich nicht beunruhigt, denn dein Vater macht jenen Weisen, die du erwähnt hast, alle Ehre. Doch die Zukunft…«

»Solltest du auch ein Seher sein?«

»Welcher Dichter ist es nicht? Hör diese Zeilen aus meinem ersten Gesang: ‹Schnell von den Höhn des Olympos enteilte Apoll, zürnenden Herzens, über der Schulter den Bogen und ringsverschlossenen Köcher. Hell umklirrten die Pfeile dem zürnenden Gotte die Schultern, wie er selbst sich bewegte, der düsteren Nacht zu vergleichen… Dann aber gegen die Menschen die bitteren Pfeile gerichtet, schoß er: rastlos brannten die Totenfeuer in Menge.›«

»In Ägypten werden nur bestimmte Verbrecher verbrannt. Um derartig streng bestraft zu werden, muß man schon abscheuliche Verbrechen begangen haben.«

Homer wirkte beunruhigt.

»Noch herrscht Frieden in Ägypten, doch wie lange noch? Ich hatte einen Traum, Prinz Ramses, und darin sah ich unzählige Pfeile wie Schwärme daherfliegen und die Leiber junger Männer durchbohren. Der Krieg rückt näher, ein Krieg, den ihr nicht werdet aufhalten können.«

Sary und seine Gattin Dolente erfüllten mit Eifer die ihnen von Chenar übertragene Aufgabe. Nach kurzer Beratung hatten die Königstochter und ihr Gemahl sich entschlossen, ihm zu gehorchen und eifrig zu dienen. So würden sie sich nicht nur an Ramses rächen, sondern an Chenars Hof auch noch eine herausragende Stellung erlangen. Gemeinsamer Kampf bedeutete gemeinsamen Sieg!