Menelaos und die Griechen kochten vor Ungeduld. Dolente und Sary, die Iset für sich gewinnen konnten, hatten die wohlwollende Duldung des großen Amun-Priesters und auch die tätige Mitwirkung etlicher Würdenträger Thebens erreicht. Und bei Hof hatte Meba, der die auswärtigen Angelegenheiten regelte, sich für Chenar als Nachfolger eingesetzt.
Ein Abgrund würde sich auftun vor Ramses. Der junge Regent mit seinen dreiundzwanzig Jahren hatte sich geirrt, wenn er glaubte, allein schon das Wort seines Vaters genüge, um ihm den Thron zu sichern.
Chenar überlegte, womit er seinen Bruder abspeisen könnte. Wenn er vernünftig wäre, könnte er ein Ehrenamt in den Oasen oder in Nubien bekommen. Aber würde er nicht auch dort nach Verbündeten suchen, um sich gegen den neuen Machthaber aufzulehnen, wobei ihm wohl jeder willkommen wäre? Sein Ungestüm würde sich mit einer endgültigen Verbannung wohl kaum abfinden. Nein, Ramses mußte man anders bändigen, für immer. Ihn zu töten wäre die beste Lösung, aber den eigenen Bruder umzubringen ging Chenar gegen den Strich.
Das klügste wäre, ihn Menelaos zu übergeben. Er könnte ihn nach Griechenland mitnehmen und behaupten, der ehemalige Regent, der auf das Amt des Pharaos verzichtet habe, wolle nun ein Weilchen reisen. Und in diesem fernen Land könnte der König von Lakedämon ihn dann als Gefangenen halten, bis Ramses, von allen vergessen, umkam. Und Nefertari würde ihrer ursprünglichen Berufung gemäß in einem Tempel in der Provinz eingesperrt werden.
Chenar ließ die Diener zu sich rufen, die mit der Pflege seines Haares, seiner Hände und Füße betraut waren. Der künftige Herrscher Ägyptens war sich untadelige Vornehmheit schuldig.
Die große königliche Gemahlin verkündete dem Hof das Hinscheiden Sethos’. Im fünfzehnten Jahr seiner Regierung hatte der Pharao sein Antlitz dem Jenseits zugewandt, seiner himmlischen Mutter, die ihn Nacht um Nacht neu gebären würde, damit er bei Anbruch der Morgenröte als neue Sonne aufgehe. Seine Brüder, die Götter, würden ihn in die Paradiese aufnehmen, wo er, vom Tode genesen, aus der Maat leben werde.
Nun begann die Zeit der Trauer.
Die Tempel wurden geschlossen, die Ritualhandlungen unterbrochen, nur morgens und abends erklangen die Totengesänge. Siebzig Tage lang rasierten die Männer sich nicht, trugen die Frauen das Haar offen, man aß kein Fleisch und trank keinen Wein. Die Schreibstuben blieben leer, die Verwaltung ruhte.
Der Pharao war tot, der Thron verwaist, und Ägypten stand vor einer ungewissen Zukunft. Jeder fürchtete diese gefahrvolle Zeit, wo die Maat für immer verschwinden könnte. Obwohl die Königin und der Regent da waren, herrschte an der Spitze der Macht Leere. Das lockte die Mächte der Finsternis an. Sie würden sich auf tausenderlei Arten bemerkbar machen, um Ägypten die Luft abzuschnüren und es sich gefügig zu machen.
An den Landesgrenzen wurde das Heer in Alarmbereitschaft versetzt. Die Nachricht vom Tode Sethos’ würde sich in den anderen Ländern wie ein Lauffeuer herumsprechen und Begehrlichkeiten wecken. Die Hethiter und andere kriegerische Völker könnten durchaus einen Angriff auf den Saum des Deltas versuchen oder sich gar zu einem Einmarsch bereitmachen, wovon auch Seeräuber und Beduinen träumten. Sethos hatte sie, allein durch sein Auftreten, zur Ohnmacht verdammt, aber nun war er nicht mehr da. Würde Ägypten trotzdem in der Lage sein, sich zu verteidigen?
Am Tage seines Hinscheidens wurde Sethos’ Leichnam in die Reinigungshalle am Westufer des Nils gebracht. Die große königliche Gemahlin übernahm den Vorsitz der Versammlung, die den verstorbenen König zu begutachten hatte. Sie selbst, ihre Söhne, der Wesir, die Mitglieder des Rats der Weisen, die höchsten Würdenträger, aber auch die Dienerschaft des königlichen Haushalts erklärten hier im Anschluß an ihre Vereidigung und Beteuerung, nur die Wahrheit zu sagen, daß Sethos ein gerechter König gewesen war und sie keinerlei Klage gegen ihn vorzubringen hätten.
Die Lebenden hatten somit ihr Urteil gefällt. Jetzt konnte Sethos’ Seele dem Fährmann entgegengehen, sich übersetzen lassen über den Fluß zur anderen Welt und sich dem Gefilde der Sterne nähern. Doch zuvor mußte sein sterblicher Leib noch in Osiris verwandelt und den Königsriten gemäß mumifiziert werden.
Sobald die Mumifizierer die Eingeweide entnommen und den Körper mit Natron und durch Sonnenbestrahlung getrocknet hätten, würden die Zeremonienmeister den verstorbenen König in Stoffstreifen wickeln und Sethos zum Tal der Könige begleiten, wo sein Haus für die Ewigkeit bereitstand.
Ameni, Setaou und Moses machten sich Sorgen. Ramses war in Schweigen versunken. Nachdem er seinen Freunden für ihre Anwesenheit gedankt hatte, zog er sich in die Einsamkeit seiner Gemächer zurück. Nur Nefertari gelang es, ab und zu ein paar Worte mit ihm zu wechseln, die ihn aber auch nicht aus seiner Verzweiflung zu reißen vermochten.
Ameni spürte ein Unheil nahen, denn Chenar entfaltete nach gebührlicher Zurschaustellung seines Kummers einen beunruhigenden Tätigkeitsdrang. Er nahm zu den verschiedensten Ämtern Verbindung auf und riß die Verwaltung des Landes an sich. Gegenüber dem Wesir hatte er mehrmals betont, er handele völlig uneigennützig, nur auf den Erhalt des Wohlstands im Lande bedacht, dabei trug doch das ganze Land Trauer.
Tuja hätte ihrem Ältesten ins Gewissen reden müssen, aber die Königin wich nicht von der Seite ihres Gemahls. Als Verkörperung der Göttin Isis hatte sie die Beschwörungspflicht zu erfüllen, ohne die keine Wiedergeburt möglich war. Bis zu dem Augenblick, da Osiris-Sethos in seinen Sarkophag, den »Herrn des Lebens«, gelegt werden würde, kam es für die große königliche Gemahlin nicht in Frage, sich um weltliche Angelegenheiten zu kümmern.
Chenar hatte also freie Hand.
Löwe und Hund schmiegten sich an ihren Herrn, als wollten sie seinen Schmerz lindern.
Mit Sethos schien die Zukunft verheißungsvoll. Ramses brauchte nur auf seinen Rat zu hören, ihm zu gehorchen und seinem Beispiel zu folgen. Wie einfach und wie erfreulich wäre es gewesen, unter seinem Befehl zu regieren! Keinen Augenblick lang hatte Ramses sich vorgestellt, daß er so allein sein würde, dieses Vaters beraubt, dessen Blick sich in den Schatten verlor.
Wie kurz diese fünfzehn Regierungsjahre gewesen waren, viel zu kurz! Abydos, Karnak, Memphis, Heliopolis, Kurna – all diese Tempel, die auf ewig vom Ruhm ihres Erbauers künden würden, der sich den Pharaonen des Alten Reiches als ebenbürtig erwiesen hatte. Aber jetzt war er nicht mehr da, und seine dreiundzwanzig Jahre erschienen Ramses als ein zu leichtes Rüstzeug, um zu regieren. Verdiente er ihn wirklich, seinen Namen – Ramses, »Sohn des Lichts«?