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Er hob die Spitze der Spritze ins Licht.

Das Wiegenlied.

Der Junge hatte ihm erklärt, er habe sie in einer Bibel vom seligen Per Vollan bekommen – Friede seiner gequälten Seele –, angeblich das reinste Heroin Oslos. Und er hatte ihm gezeigt, wie man es anstellen musste, wenn die Zeit gekommen war.

Johannes legte die Spitze der Spritze auf eine dicke blaue Ader am Arm. Sein Atem ging schnell.

Das war also alles, ein ganzes Leben. Ein Leben, das vielleicht ganz anders verlaufen wäre, wenn er sich nicht bereit erklärt hätte, diese zwei Säcke aus Songkhla mitzunehmen. Seltsam. Würde er heute noch ja sagen? Nein. Aber der, der er damals gewesen war, hatte ja gesagt. Wieder und wieder. Es hätte also kaum anders verlaufen können.

Johannes drückte die Kanüle gegen die Haut, und ein Schauer lief über seinen Rücken, als die Nadel sich hineinbohrte. Dann drückte er den Kolben der Spritze nach unten. Gleichmäßig und ruhig. Er musste sich alles spritzen, das war wichtig.

Als Erstes verschwanden die Schmerzen. Wie von Zauberhand.

Dann kam das andere.

Und er verstand, wovon sie immer geredet hatten. Der Rausch. Der freie Fall. Die Umarmung. War es wirklich so einfach? War das alles die ganze Zeit über wirklich nur einen Nadelstich entfernt gewesen? War sie all die Jahre über nur einen Nadelstich entfernt gewesen? Denn jetzt war sie bei ihm. Mit dem seidenen Kleid, den dunkel glänzenden Haaren, den Mandelaugen und den weichen, sich so langsam bewegenden Himbeerlippen. Ihre sanfte Stimme flüsterte die schwierigen englischen Worte. Johannes Halden schloss die Augen und sank auf seinem Bett zusammen.

Der Kuss.

Das war es, das wollte er all die Jahre haben.

Markus sah blinzelnd auf den Fernsehschirm.

Sie sprachen von allen, die in den letzten Wochen ermordet worden waren, das Thema beherrschte Radio und Fernsehen. Mama hatte gesagt, er solle sich das nicht immer angucken, weil er sonst nur wieder Alpträume bekäme. Aber er hatte keine Alpträume mehr. Und jetzt war jemand im Fernsehen, den Markus wiedererkannte. Er saß an einem Tisch voller Mikrofone und beantwortete Fragen. Markus erinnerte sich wegen der viereckigen Brille an ihn. Verstand aber weder, wie das zusammenhing, noch, was das bedeutete. Nur dass der Mann jetzt nach dem Feuer die Heizung in dem gelben Haus nicht mehr anzudrehen brauchte.

Teil V

Kapitel 42

Um fünf nach halb sieben unterdrückte die Empfangsdame der Kanzlei Tomte & Øhre ein Gähnen, während sie sich daran zu erinnern versuchte, in welchem Film sie solch einen Trenchcoat gesehen hatte, wie ihn die Frau vor ihr trug. Irgendwie musste sie an Audrey Hepburn denken. Frühstück bei Tiffany? Dazu passten auch der seidene Schal und die Sonnenbrille. Alles 60er-Jahre-Stil. Die Frau stellte eine Tasche hinter dem Empfangstresen ab, sagte, sie habe mit Jens Øhre vereinbart, die Tasche hier abzugeben, und ging.

Eine halbe Stunde später spiegelte sich die Sonne auf den Fenstern in der roten Backsteinfassade des Osloer Rathauses, die ersten Fähren legten am Kai von Aker Brygge an, und die Pendler aus Nesoddtangen, Son und Drøbak strömten an Land und zu ihren Arbeitsplätzen. Es würde wieder ein wolkenloser Tag werden, aber die prickelnde, klare Luft ließ erkennen, dass auch dieser Sommer nicht endlos währen sollte. Zwei Männer gingen Seite an Seite über die Uferpromenade, vorbei an Restaurants mit noch hochgestellten Stühlen, den morgendlich geschlossenen Boutiquen und den Straßenverkäufern, die gerade ihre Sachen auspackten, um einen neuen Angriff auf die Sommertouristen zu starten. Der jüngere der beiden trug einen eleganten, aber zerknitterten grauen Anzug mit Flecken. Der andere eine karierte Jacke aus dem Schlussverkauf von Dressman und eine Hose, die bestenfalls preislich zu der Jacke passte. Sie hatten die gleichen Sonnenbrillen auf, die sie vor gerade einmal zwanzig Minuten an einer Tankstelle erworben hatten, und hielten jeder einen Aktenkoffer in der Hand.

Die beiden Männer verschwanden in einer schmalen, menschenleeren Gasse. Fünfzig Meter weiter gingen sie eine Stahltreppe zu der unauffälligen Tür eines Restaurants hinunter, das dem Namen nach – er stand in diskreten Buchstaben an der Tür – Meeresfrüchte anbot. Der Ältere legte seine Hand auf den Griff der Tür. Sie war verschlossen. Er klopfte. Ein Gesicht, verzerrt wie in einem Jahrmarktspiegel, tauchte hinter dem Bullauge in der Tür auf. Der Mund bewegte sich, und die Worte klangen, als kämen sie aus der Tiefe eines Sees: »Zeigen Sie mir Ihre Hände.«

Sie taten, was der Mann wollte, und die Tür ging auf.

Der Mann war blond und stämmig. Sie sahen nach unten auf die Pistole, die er auf sie gerichtet hatte.

»Guten Morgen«, sagte der ältere der beiden Männer und schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn.

»Reinkommen«, sagte der Blonde.

Sie traten in das Restaurant und wurden sofort von zwei schwarzgekleideten Männern einer Leibesvisitation unter­zogen, während der Blonde mit gezogener Waffe entspannt am Garderobentresen lehnte. Die Pistole aus dem Schulterhalfter des Älteren wurde ihm gereicht.

»Der hier ist sauber«, sagte der eine Schwarzgekleidete und nickte in Richtung des Jüngeren. »Aber er hat diese seltsame Bandage um den Kopf.«

Der Blonde starrte ihn an. »So, so, dann bist du also dieser Buddha mit dem Schwert? Angel from Hell, was?«

Der Junge antwortete nicht. Der Blonde spuckte vor dessen blankgeputzten Vass-Schuhen auf den Boden. »Passt doch, sieht schließlich aus, als hätte dir jemand ein scheiß Kreuz in die Stirn geschnitten.«

»Ihnen auch.«

Der Blonde runzelte die Stirn. »Wie meinst du das denn, Bud­dha?«

»Spüren Sie das nicht?«

Der Blonde trat einen Schritt vor und stellte sich auf die Zehenspitzen, so dass ihre Nasen sich beinahe berührten.

»Immer mit der Ruhe«, sagte der Ältere.

»Halt den Mund, alter Mann!«, schimpfte der Blonde. Er schob die Jacke des Jungen zur Seite und zog ihm das Hemd aus der Hose. Dann ließ er seine Finger über den Verband am Bauch gleiten.

»Hier?«, fragte er, als er mit den Fingern an der Seite des jungen Mannes angekommen war.

Zwei Schweißperlen standen über der Sonnenbrille auf der Stirn des Jungen. Der Blonde bohrte einen Finger in den Verband. Der Junge öffnete den Mund, aber es kam kein Laut über seine Lippen.

Der Blonde fletschte die Zähne. »Na, da habe ich ja die richtige Stelle.« Er bohrte weiter und kniff ihm in die Haut.

Ein heiseres Stöhnen kam aus dem Mund des Jungen.

»Bo, der Chef wartet«, sagte einer der anderen.

»Ist ja schon gut«, sagte der Blonde leise, ohne den Blick von dem schwer atmenden Jungen zu nehmen. Der Blonde kniff noch fester zu. Eine einzelne Träne kam unter der Sonnenbrille auf der bleichen Wange des Jungen zum Vorschein.

»Schöne Grüße von Sylvester und Evgeni«, flüsterte der Blonde. Dann ließ er ihn los und wandte sich an die anderen. »Nehmt ihre Koffer und bringt sie rein.«

Die beiden gaben ihre Aktenkoffer ab und gingen ins Res­taurant.

Der Ältere wurde automatisch langsamer.

Die Silhouette eines Mannes – eines großen Mannes – zeichnete sich vor dem grünen Licht des Aquariums ab, in dem ein großer weißer Stein lag, in dem ein Kristall blinkte. Fäden stiegen von ihm auf, und Luftblasen tanzten an ihnen entlang nach oben. Bunte Fische flitzten hin und her, und unten am Boden lagen Hummer, deren Scheren mit Draht zusammengehalten wurden.