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Hauptkommissar Simon Kefas schaffte es gerade noch, die Augen zuzukneifen und sich die Ohren zuzuhalten. Der Lichtblitz schlug ihm wie eine Zunge ins Gesicht, und der Knall war wie ein Faustschlag in den Bauch.

Dann öffnete er die Augen wieder, beugte sich blitzschnell vor, schnappte sich die Pistole, die im Koffer lag, und drehte sich um. Der Blonde stand da, als hätte er der Medusa in die Augen ge­sehen, noch immer mit dem Arm um Sonnys Kopf und dem Messer in der Hand. Simon sah in diesem Moment, dass der Kerl tatsächlich ein Kreuz auf der Stirn hatte, wie bei einem Zielfernrohr. Simon schoss und sah das Loch unter dem blonden Haaransatz. Der Mann ging zu Boden, und Sonny schnappte sich die Uzi. Simon hatte ihm erklärt, sie hätten maximal zwei Sekunden, bevor die paralysierende Wirkung nachließ. Sie hatten im Hotelzimmer im Bismarck wieder und wieder die Vorgehensweise trainiert, die Waffen ergriffen und geschossen. Natürlich hatten sie den Handlungsablauf nicht im Detail vorhersehen können, und unmittelbar bevor der Zwilling den Koffer geöffnet und damit die Explosion der Granate ausgelöst hatte, war Simon überzeugt davon gewesen, alles würde schiefgehen. Aber als er sah, wie Sonny auf den Abzug drückte und auf einem Fuß eine Pirouette drehte, wusste er, der Zwilling würde am Ende dieses Arbeitstages nicht zufrieden nach Hause gehen. Die stotternde Waffe, die nie mehr als die erste Silbe vollendete, spuckte Kugel um Kugel aus. Zwei Männer waren bereits gefallen, der dritte schaffte es noch, die Hand unter die Jacke zu schieben, als der Kugelhagel quer über seine Brust hinwegging. Einen Moment blieb er stehen, dann erhielten auch seine Knie die Nachricht, dass er tot war. Simon hatte sich in diesem Moment bereits zum Zwilling umgedreht und starrte verblüfft auf den leeren Stuhl. Wie konnte sich ein derart großer Mann so schnell …?

Er erblickte ihn am Ende des Aquariums, unmittelbar vor der Schwingtür, die zur Küche führte.

Simon zielte und drückte dreimal in rascher Folge ab. Er sah ein Zucken in der Jacke des Zwillings, dann splitterte das Glas des Aquariums. Das Wasser schien in seiner kubischen Form zu verharren, aus Gewohnheit oder von unsichtbaren Kräften gehalten, ehe es sich ihnen als grüne Wand entgegenwälzte. Simon versuchte noch, zur Seite zu springen, kam aber zu spät. Er trat auf einen knackenden Hummer, spürte, dass seine Knie nachgaben, und wurde von der Springflut mitgerissen. Als er wieder aufblickte, sah er keinen Zwilling, nur die schwingende Küchentür.

»Sind Sie okay?«, fragte Sonny und wollte Simon auf die Beine helfen.

»Mir geht es gut«, stöhnte Simon und schlug seine Hand weg. »Aber wenn der Zwilling jetzt abhaut, ist er für immer verschwunden.«

Simon rannte zur Küchentür, trat sie auf und stürzte mit gezückter Pistole hinein. Es roch scharf nach Großküche. Sein Blick glitt über Tische und Herde aus Edelstahl und Reihen von Tiegeln, Töpfen und Pfannenwendern, die von der Decke herabhingen und ihm den Blick verstellten. Simon hockte sich hin und suchte nach Schatten oder Bewegungen.

»Der Boden«, sagte Sonny.

Simon blickte nach unten. Rote Flecken auf blaugrauen Steinfliesen. Er hatte richtig gesehen, er hatte ihn mindestens einmal getroffen.

Dann hörten sie, wie weit weg eine Tür zufiel.

»Los.«

Die Blutflecken führten sie aus der Küche und über einen dunklen Flur, wo Simon die Sonnenbrille absetzte. Dann mussten sie eine Treppe hoch und über einen weiteren Flur, der an einer Stahltür endete. Diese Tür musste das Geräusch gemacht haben. Simon öffnete trotzdem alle anderen Türen, die seitlich von dem Flur abgingen, und warf einen Blick in die Räume dahinter. Neun von zehn Menschen flohen auf dem kürzesten Weg vor zwei Männern mit einer Uzi, aber der Zwilling war der Mensch Nummer zehn. Immer kalt, immer rational kalkulierend. Ein Typ, der auch einen Schiffsuntergang überlebt. Vielleicht hatte er die Tür auch nur geöffnet und wieder zufallen lassen, um sie zu verwirren.

»Der haut ab«, sagte Sonny.

»Ruhig«, sagte Simon und riss die letzte Seitentür auf. Niemand.

Außerdem waren die Blutspuren eindeutig. Der Zwilling war hinter der Stahltür.

»Bereit?«, fragte Simon.

Sonny nickte und baute sich mit seiner Uzi vor der Stahltür auf.

Simon presste den Rücken neben der Tür an die Wand, drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür.

Sonnenlicht.

Simon ging nach draußen und spürte den Wind im Gesicht. »Verdammt …«

Sie starrten auf eine leere Straße. Vor ihnen lag die Kreuzung Ruseløkkveien und Munkedamsveien, der zum Schlosspark hinaufführte. Keine Autos, keine Menschen.

Und kein Zwilling.

Kapitel 43

»Hier hört die Blutspur auf«, sagte Simon und zeigte auf den Asphalt. Der Zwilling musste gemerkt haben, dass ihn die Blutspur verrät, und irgendwie die Blutung gestoppt haben. Solche Typen überleben auch Schiffsuntergänge.

Simon starrte über den menschenleeren Ruseløkkveien. Ließ den Blick über die Sankt-Pauls-Kirche gleiten und weiter über die kleine Brücke, hinter der die Straße einen Bogen machte und nicht mehr einzusehen war. Dann sah er links und rechts den Munkedamsveien hinunter. Nichts.

»Verdammt …!« Sonny schlug sich mit der Uzi frustriert auf den Schenkel.

»Wenn er über die Straße gelaufen wäre, hätten wir ihn noch sehen müssen«, sagte Simon. »Er muss irgendwo reingegangen sein.«

»Aber wo?«

»Weiß ich nicht.«

»Vielleicht hatte er hier irgendwo ein Auto stehen.«

»Möglich. Aber Moment mal!« Er zeigte auf den Boden zwischen Sonnys Schuhen. »Da ist ja doch noch ein Blutfleck. Vielleicht …«

Sonny schüttelte den Kopf und hob seine Jacke hoch. Eine Seite des sauberen Hemdes, das er von Simon bekommen hatte, war rot.

Simon fluchte leise. »Hat dieses Arschloch es geschafft, dass die Wunde wieder aufgeplatzt ist?«

Sonny zuckte mit den Schultern.

Simon sah wieder hoch. Hier parkten keine Autos, und Läden gab es auch nicht. Nur geschlossene Tore und verriegelte Haustüren. Wohin konnte er geflohen sein? Blickwinkel ändern, schärfte Simon sich ein. In die Haut des anderen … Er hob den Blick, und seine Pupillen reagierten. Die Sonne wurde von einem kleinen Stück Glas, das sich bewegte, reflektiert. Oder von Metall. Messing.

»Kommen Sie«, sagte Sonny. »Wir checken noch mal das Restaurant, vielleicht ist er …«

»Nein«, sagte Simon leise. Der Messingtürgriff. Schwergängige Türangeln, eine massive Tür, die sich nur langsam schloss. Die Kirche war immer offen. »Ich weiß, wo er ist.«

»Sie wissen, wo er ist?«

»Die Kirchentür da oben, siehst du die?«

Sonny starrte geradeaus. »Nein.«

»Sie schließt sich gerade. Er ist in die Kirche gegangen. Los, komm.«

Simon rannte. Setzte den einen Fuß vor den anderen. Eine ­einfache Bewegung, die er schon als Kind gelernt hatte. Er war gelaufen, immer wieder, und war mit jedem Jahr schneller geworden, bis er dann – ebenso systematisch – wieder langsamer geworden war, Jahr für Jahr. Weder die Knie noch die Atmung wollten so funktionieren, wie er das von früher kannte. Auf den ersten zwanzig Metern konnte er mit Sonny Schritt halten, dann entfernte der Junge sich immer mehr. Der Junge hatte gut fünfzig Meter Vorsprung, als Simon ihn die drei Stufen raufrennen und durch die schwere Tür verschwinden sah.

Simon wurde langsamer. Wartete auf das Geräusch. Das ploppende, fast kindliche Geräusch der Schüsse, wenn man sie durch Wände hört. Aber es kam nicht.

Er ging die Treppe hoch. Öffnete die schwere Tür und trat in die Kirche.

Der Geruch. Die Stille. Die tiefe Überzeugung so vieler denkender Menschen. Die Reihen waren leer, aber vorn am Altar brannten Kerzen. Simon fiel ein, dass in einer halben Stunde die Morgenmesse begann. Das Licht der Kerzen flackerte über die verlorene Gestalt am Kreuz. Dann hörte er die flüsternd mahnende Stimme und drehte sich nach links.